Die sichtbaren und die unsichtbaren Schatten

Von Stefan Walter

Nach einem alten Volksglauben verliert der Mensch durch die Begegnung mit dem Bösen seinen Schatten. Dies könnte irriger kaum sein.
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Ich traf sie das erste Mal in ihrer Lieblingspose, umringt wie eine Königin von ihren Zofen, alles überstrahlend wie die Sonne. Sie ließ sich auf Empfehlung freundlich herab, meine bescheidene Person zur Kenntnis zu nehmen; wie überhaupt ihr ganzes Wesen freundlich und hilfsbereit war, solange man nur ihren Primat anerkannte. Für einen Schatten ließ ihr Glanz keinen Raum.
Als ich sie wiedersah, dämmerte es bereits. Sie stand am Balkon, ans Geländer gelehnt, den Blick ins Unendliche gerichtet. Noch immer hatte sie ihren Hofstaat um sich geschart, und wenn sie sprach, dann war es allen so, als ob das Licht von ihr und nicht von der untergehenden Sonne käme. Doch hätten die Leute weniger gebuckelt und gehuldigt, dann hätten sie vielleicht bemerkt, dass der Mund zwischendurch schmaler wurde, die Augenbrauen sich der Nase näherten, die sich wiederum verbreiterte; dass sich die Brust beim Atmen etwas stärker hob als zuvor, dann jedoch unvermittelt stoppte, als trüge sie drei Bänder wie der treue Heinrich. Im nächsten Moment ging der Blick nach unten, die Augen weiteten sich sehnsuchtsvoll, bevor sie sich gleich wieder fasste.
Bei unserer dritten Begegnung war es Nacht. Sie verabschiedete ihre Begleiter in aller Fröhlichkeit und Gnade, und niemand schien anderes als Huld in ihren Augen zu erkennen. Vielleicht lag es an der Dunkelheit, die die Leute blind machte, vielleicht wollten sie nicht sehen, vielleicht waren sie wirklich blind. Mir war das Grauenhafte jedoch überdeutlich. Sie warf nicht einfach nur Schatten; ein ganzes Heer von ihnen umkreiste sie, die Augen, den Kopf, das Herz, die Arme, und attackierte sie mit langen, spitzen Klauen und eiskalten Fingern. Sie wehrte sich nicht.
Ich hatte ihren Blick am Abend gesehen, ich konnte sie nicht alleine lassen. Und so saß ich neben ihr, wartend, bangend, mitleidend. Es dauerte Stunden, bis sie sprechen konnte. Sie vertraute mir ihre Geschichte an, und hätte damit Felsen zum Weinen gebracht. Sie war dem Bösen begegnet.
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Manchmal verlieren Menschen wie wir unsere Schatten tagsüber. Doch sobald es dunkel wird, kommen sie, immer und immer wieder. Sie lassen uns niemals in Ruhe. Und ihr, die ihr blind seid, lasst uns mit den Schatten Nacht für Nacht allein.

© 2021 Stefan Walter
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