Von Michael Wiedorn
Der Läufer kämpft gegen die Müdigkeit an. Das Fleisch ist schwach. Seine Muskeln stellen sich dem Sportler – seinem Willen – entgegen. Was ist wollen? Wer will hier was? Ruhig gestelltes Fleisch, ruhendes Gewebe wird schlaff, wird schwach. Gelblich weißes Fett schwabbelt und zittert und wackelt und droht den Helden zu verschlingen. Ein Mensch erwacht nicht mehr vom Ruhen und Dösen. Seine Muskeln weichen auf und zerfließen. Alle Zukunft steht still und das Gesicht zerfällt in Leere. Er zerfließt und die Haut schützt das Innen nicht mehr vor der Angriffen der Außenwelt. Der Läufer kämpft dagegen an. Die niedrigen Bedürfnisse sind seine ärgsten Feinde. Hier liegt schon seit Tagen und Wochen ein rohes Stück Braten in der drückend schwülen Hitze. Es stinkt und verfärbt sich blau und grau. Fliegen umschwirren es. Der Athlet steht in der Morgendämmerung auf, duscht sich mit eiskaltem Wasser – selig ist, was hart macht – dann springt er im Laufschritt in die taubedeckte Morgenlandschaft. Er stählt sich. Sein Muskelgewebe verhärtet sich zu Stahl. Ein Leib aus Stahl ragt in die Höhe. Panzer mit in die Höhe gerichteten Rohren aus Kruppstahl ziehen am Führer, am Politbüro, an der Junta vorbei. Der Triumph des Willens! Du kannst es, wenn du es willst! Du kannst alles! Kein Organ, kein Glied des Langstreckenläufers ruht. Er löst sich in Schnelligkeit auf. Der Sportler ist aus Metall wie eine Schusswaffe – wie ein tödlicher Flugkörper. Der Mann wächst zu gigantischer Größe hoch und erstarrt zu einem Kriegerdenkmal für alle Ewigkeit. Die Krieger sind gefallen. Die Toten. Ein zu Eisen gehärteter Held der Arbeit mit von Schwerstarbeit geschmiedetem Oberkörper und eine zu Eisen erstarrte Heldin der Arbeit in züchtigem Eisenkleidchen tragen triumphierend mit stolzem Blick vorwärts in eine strahlende Zukunft Hammer und Sichel. Die nutzlosen Fluten des Aralsees werden zur Arbeit einberufen – zur Fruchtbarmachung der zentralasiatischen Steppen. Du kannst es, wenn du willst! Der Mensch kann alles! Der Aralsee ist weg. Mücken umschwirren brackige Schlammlöcher. Der Sieger hält das Kinn vor Stolz in die Höhe gereckt. Die Augen strahlen in die Sonne der Zukunft. Er ist der Herr. Traurig fallen die Verlierer in sich zusammen. Graue, gebeugte Gestalten werden dazu verdammt in abgelegenen Höhlen und schmutzigen Baracken den Rest ihres Lebens dahinzusiechen. Ihr Fleisch wird grau und stinkt. Leichen halten sich verzweifelt am Leben. Seit Tagen und Wochen liegt hier ein rohes Schnitzel und riecht und schimmert blau und grau. Sieger sind grausam. Blonde Bestien. Die Mauern des Stadions bersten im durchdringenden Gegröle der Starken. Der strenge Schweißgeruch der überlegenen Mannschaft. Es ist der Gestank der Kraft. Lachende Gesichter. Scharfe, blitzblank weiße Zähne. Mit ihnen kann man dem Feind schwere Wunden zufügen. So sehen Sieger aus! Fans brüllen unter schwarz-rot-goldener Löckchenperücke – eingehüllt in die Nationalflagge. Hoch die Tassen! Sie torkeln und stützen sich gegenseitig, abgefüllt mit Schnaps und Bier. Hoch ragt der Uhrturm der Berliner Olympiade in den Himmel. Triumph des Willens! Du kannst es, wenn du willst! Du kannst alles! Der Läufer wird schneller und immer schneller. Sein Körper ist nur mehr ein vorbeischießendes Wurfgeschoss, das in die Ferne jagt. Er überwindet alle Rekorde. Die Geschwindigkeit löscht ihn aus. Er überwindet die Schallmauer. Am Ziel wundern sich die Schiedsrichter, daß der Sieger nicht ankommt. Er wird nie ankommen. Die Schallmauer hat ihn verschluckt. Der Held ist weg.
© 2021 Michael Wiedorn
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