aus: pandemische bekenntnisse eines homo cannabisens

Von zartelli

Quaramortuna

am Sehnpuls starrt die Stachelhaut
im Hals das alte Lied
es wollte noch gesungen sein

ein Kusshauch auf die Mundschutzkellertür
im Jackenzwang der Ungehörigkeit

maskiert von Feiglingsmut
der letzte liebe Laut

memento amori

Es hat ihr nicht gefallen. Glaubt sie eigentlich noch an mich? Eine Minute zuvor war ich voller Euphorie, habe mich für einen großen Dichter gehalten. Dabei taugt das Machwerk nichtmal für die Finanzierung des Rhabarber-Baiser-Kuchens, den wir uns eigentlich nicht leisten können und von dem die Tochter soeben einen mächtigen Bissen in sich reingeschoben hat – nicht ohne mir einen schadenfroh-mitleidigen Blick zuzuwerfen, mir, der ich soeben von meinem Weib umstandslos abgekanzelt worden bin: „Bitte fang jetzt nicht auch noch mit Lyrik an. Du bist ja wohl keine 16 mehr.“

So kann das nicht weitergehen. Ich brauche ein Erfolgserlebnis, unbedingt, bevor mein Selbstbild bis zur Unkenntlichkeit abbröckelt! Die erlittene Züchtigung dürfte ich vor allem dem Umstand zu verdanken haben, dass sich mein Weib über unseren Hausarzt aufgeregt hat. Dr. Hubert Simoni behauptet trotz wiederholter Unterlassungsaufforderung der örtlichen Gesundheitsbehörde weiterhin öffentlich, Angstinfektionen und Isolationsfolter würden die Gesundheit des Menschen ruinieren. Als Gegenmaßnahmen empfiehlt er eine gesunde Ernährung, viel Bewegung in frischer Luft und die Wiederherstellung eines intakten sozialen Umfelds. Zudem propagiert er Umarmungen als Erste-Hilfe-Maßnahme gegen den Zusammenbruch geschwächter Immunsysteme.
„Und auf der Eingangstür steht auch noch, dass in der Praxis kein Maskenzwang besteht! Ist der Mann verrückt geworden? Ist dem denn nicht klar, dass er mit seinen kruden Ansichten seine Patienten massiv gefährdet oder sogar in den Tod treibt? Dem sollte die Zulassung entzogen werden, aber schleunigst!“

Mein Weib ist also an der Tür sofort wieder abgebogen, ohne die Gürtelrose behandeln zu lassen. Sie ist schlecht drauf und lässt es uns büßen. Sie schmäht meine Dichtkunst. Sie reißt der Tochter das Mandelhörnchen vom Mund weg. Gut, das Mädchen nimmt auf beängstigende Weise zu, aber man kann doch einer Süchtigen nicht einfach übergangslos die Droge vorenthalten. Zumal mein Weib sich das Teil selbst in den Mund geschoben hat, was die Gürtelrose sicher noch mehr zum Blühen bringt. Ich habe mich jedenfalls wieder gefangen: mein Gedicht ist klasse, da kann sie sagen, was sie will, auch wenn es das letzte sein sollte, das ich jemals geschrieben haben werde.

*

Mein Freund Mirko hat mir in seiner Dachkammer die neueste Version seiner Maskensammlung präsentiert:
„Ein Dankeschön für alle, welche die wundervolle Solidarität kaputtreden, die wir in den letzten Monaten so schön aufgebaut haben. Dieses Maskenmodell mit automatischem Mundversiegelungsmechanismus, sekundenverklebend, dient vor allem auch dem Zweck, den Träger vor sich selbst zu schützen.“

Seltsamerweise war meine geliebte Prinzessin Cannabacea auch bei ihm nicht aufzufinden, sodass wir uns mit Huflattich behelfen mussten. Laien könnten den Geruch verrauchter Huflattichblätter leicht mit jenem von Marihuana verwechseln. Ihr Rauch ist von einer milden Schärfe und verursacht ein leichtes Kratzen im Rachenbereich. Bei der Verabreichung eines gehörigen Quantums beginnt sich ein Kreisel unter der Schädeldecke zu drehen. Mirko griff sich die Gitarre und sang sein neues Lied durch die geöffneten Fenster, über eine Person mit dem Namen Korona Müller, „der hochnäsigsten Prinzessin, die mein Herz jemals durch den Fleischwolf gedreht hat“:

Quäl mich nicht so, quäl mich nicht so –
du lässt mich hungern, mich kriechen und siechen,
du bist so gemein! Und ich warte, Korona, Prinzessin,
ich warte auf dich.

Ich flehe dich, flehe dich an –
du lässt mich brennen, mich beten und büßen,
du trittst mich deinen barbarischen Füßen,
ach gib mir doch endlich den tödlichen Stoß!
Und ich warte, Prinzessin Korona, ich warte auf dich.

Noch bevor Mirko seinen Vortrag beendet hatte, war ein lautes Knallen zu hören. Mein Weib hatte offenbar wieder das Küchenfenster zugeschmissen. Ob zwischen den beiden vielleicht doch was gelaufen ist? Ich kriege diesen dummen Verdacht einfach nicht aus meinem verdammten Schädel.

Als ich nach leidlicher Durchlüftung meiner Textilien in mein Heim zurückkehrte, traf ich zu meiner großen Überraschung Elias Markhold an, den Schauspieler aus dem gegenüberliegenden Seitenflügel. Er saß mit meinem Weib am Küchentisch, bei einer Tasse, wie ich an dem geöffneten Beutel auf der Arbeitsplatte erkannte, original japanischem Senchatee, den wir kurz zuvor auf einem Versandportal für biologische Produkte erworben hatten. Sobald Markhold meiner ansichtig wurde, griff er wie in einem Reflex nach der Maske, die ihm um den Hals hing, ließ die Hand jedoch gleich wieder sinken. Vermutlich war ihm eingefallen, dass er bei der Zufuhr des Tees und der beiliegenden Schokodinkelkekse Probleme bekommen könnte. Ich verspürte Kopfschmerzen und wollte mir, dem Ratschlag eines Bekannten folgend, der mir für diesen Fall den Genuss von Senchatee empfohlen hatte, das Zeug in meinen Käpt`n-Blaubär-Becher gießen – doch mein Weib wies auf ein seltsames Gerät neben der Kaffeemaschine und forderte mich auf, den Desinfektionsspender auszuprobieren, den Markhold mitgebracht habe. Das Gerät sei supergünstig gewesen und man würde sich mit ihm gewiss wesentlich sicherer fühlen können.
Obwohl ich mich innerlich dagegen sträubte, fügte ich mich den mir erteilten Anweisungen: „Die Hand unter die Düse halten. Nein, nicht gleich wieder wegziehen! So, ja, und jetzt verteilen, als würdest du dir die Hände waschen. Nein, nicht abwischen, überall verreiben, bis alles trocken ist, auch die Fingernägel nicht vergessen.“

Als ich mich in gehörigem Abstand und einem pelzigen Gefühl in den Händen auf dem Sessel an der Fensterfront niedergelassen hatte, schien sich Markholds Anspannung ein wenig zu lösen. Vielleicht lag es an dem Aroma des Desinfektionsmittels. Dennoch wirkte er angegriffen und nervös: „Du hast das neue Machwerk von diesem Idioten Anno Völkling sicher auch schon gelesen. Der Typ hat doch nicht alle Tassen im Schrank!“

In der Tat hatte Anno Völkling wieder ein Pamphlet in unseren Briefkästen hinterlassen:
„Liebe Anwohner, die Pandemie ist doch gar nicht so schlimm? Es mussten nur ein paar Alte dran glauben? Moment! Die zweite Welle wird kommen, mit Sicherheit, schon um unsere führenden Virologen nicht zu enttäuschen. Sie wird alle meucheln, die zuviel Sahnetorte und Napoleonschnitten gefressen haben. Und dann wird die dritte Welle kommen, und die vierte und die fünfte, in mutativer, ununterscheidbarer Einheit mit Influenza, Rhino, Adeno und sonstigen Kanaillen, und sie wird auch die Jungen hinwegraffen. Am Ende werden nur die fünf größten Konzerne, Mami und ihr Spanferkel übrigbleiben. Wir haben also nicht mehr viel Zeit, um nochmal richtig loszuleben. Berührt einander, Leute! Gott, wie war das denn nochmal mit dem Berühren, ich weiß überhaupt nicht mehr, wie das geht . . . „

„Das ist widerlich! Der verhöhnt mit seinem Geschmiere alle redlichen Bürger, die bis zur Erschöpfung darum kämpfen, dass wir nicht noch tiefer in die Katastrophe rutschen und alles zusammenbricht. Menschen sterben und der macht sich darüber lustig. Das geht absolut nicht. Diesen Querköpfen muss das Handwerk gelegt werden, damit die einen nicht noch anstecken mit ihrer moralischen Verkommenheit. Punkt!“

Markholds Halsmuskeln hatten sich angespannt und die Ader auf seiner Stirn war bedrohlich angeschwollen. Mein Weib hatte seine Ausführungen kopfschüttelnd begleitet und fuhr fort: „Ich begreife das nicht. Können Menschen denn so dumm sein? Heute standen wieder diese Verfassungsfanatiker auf dem Marktplatz. Haben die wirklich nichts Besseres zu tun, als ihre kruden Verschwörungstheorien zu verbreiten?“
„Einfach lächerlich, diese Grundgesetzfetischisten! Das sind nichts als reaktionäre Knalltüten! Und dann kommen die noch mit irgendwelchen angeblichen Experten, die behaupten, wir hätten gar keine Pandemie. Nichts als Idioten und Betrüger. Wir sollten ein Zeichen setzen: ich denke an einen Aufruf, zur Stärkung des Zusammenhalts unserer Hausgemeinschaft.“
„Das ist eine wunderbare Idee! Und zugleich eine gute Gelegenheit auf die Liga zur Verteidigung der Gesundheit hinzuweisen. Elias und ich haben nämlich darüber geredet, dass es an der Zeit ist, ihr beizutreten. Findest du nicht auch, Schatz?“

Schatz? Mein Weib hatte mich, jedenfalls soweit ich mich erinnern kann, nie zuvor so angesprochen. Ist der Gebrauch dieses Wortes auf den Einfluss Markholds und der Turtelarien zurückzuführen, die er mit seiner Matrone vor aller Welt regelmäßig zu inszenieren pflegt? Ich rang mir ein Lächeln ab und die Bewegung meines Kopfes konnte wohl als die Andeutung eines Nickens interpretiert werden. Um das inzwischen eingetretene Schweigen nicht zur Peinlichkeit ausarten zu lassen, erkundigte ich mich bei Markhold nach dem Befinden seiner Gefährtin und erfuhr, dass sie kaum noch die Wohnung verlässt und er nur gegen ihren heftigen Widerstand durchsetzen kann, gelegentlich mit ihren Kindern einen Gang ins Freie zu wagen:
„Ich kann sie ja verstehen. Aber die Kinder sind ja immer maskiert und wenn wir zurückkommen, sprüht sie uns gleich mit einem Desinfektionsmittel ein. Man mag das für übertrieben halten, aber die Wahrscheinlichkeit, dass wir einander anstecken, lässt sich durch solche Maßnahmen sicher wesentlich verringern.“

Meine Kopfschmerzen waren schlimmer geworden. Anscheinend hat der Senchatee bei mir eine völlig andere Wirkung als bei meinem Bekannten. Es ist doch immer das Gleiche: jeder Pimpf meint, seine Erfahrungen auf alle anderen übertragen zu können und bewirkt damit nichts weiter, als dass alles nur noch unerträglicher wird. Es wäre sicher wesentlich besser um die Zukunft der Menschheit bestellt, wenn die Leute es fertigbrächten, ihre Ratschläge für sich zu behalten.

© zartelli 2021
Alle Rechte vorbehalten

Kontakt: zartelli@yahoo.de
https://soundcloud.com/user-984079939
https://soundcloud.com/user-11666436