Von Michael Kothe
Die Boutiqueninhaberin stutzte. Sie verkaufte am Freisinger Marienplatz gegenüber der Mariensäule Damenoberbekleidung für etwas exzentrische junge oder junggebliebene Frauen oder solche, die sich dafür hielten. Sie hatte schon den Schlüssel in der Hand, um das Geschäft zu schließen. Sie wollte sich Teile der neuen Kollektion anschauen, hatte noch die Abrechnung zu machen und die Tageseinnahmen zur Bank zu bringen und dort im Nachttresor zu versenken. Eine ältere Frau drückte die Tür halb auf und zwängte sich durch den Spalt in das Ladenlokal.
Die Kundin passte gar nicht in das Bild der üblichen Kundschaft. Zwar schlank, groß, aber leicht gebeugt, weiße, zu lange und etwas zottelige Haare. Am meisten fiel die unmoderne, beinahe runde Nickelbrille auf. Auch das alberne Hütchen, die Strickjacke und der nicht einmal knielange Wollrock zeigten, dass die Alte wohl nicht gerade Stammkundin in Boutiquen war.
Außerdem widersprach es den Geschäftsgepflogenheiten, die Handtasche auf den polierten Kassentisch zu stellen, darin zu kramen und anschließend ein apfelgroßes Etwas daneben zu positionieren.
»So, Mädchen. Nun mach brav die Kasse auf und schütt´ den Inhalt in die Tasche. Wenn ich den Sicherungsstift abziehen muss, bin ich schneller aus dem Laden, als du hinter deinem Tresen hervorkommst.«
Die Stimme kam der Ladeninhaberin zu tief vor, aber den Eindruck konnte ihr auch ihre Nervosität vorgaukeln. Die Alte hatte die Hand von dem Ding genommen, und jetzt stand eine Handgranate auf dem Tisch, matt, graugrün und drohend. Die Inhaberin tat, was die Alte ihr befohlen hatte. Sie atmete auf, als sie sich wieder allein im Geschäft fand. Sie zitterte am ganzen Körper. Die Polizei zu rufen, fiel ihr erst Minuten später ein.
Ein kräftiger Rempler von hinten brachte die alte Dame ins Straucheln, nach vier unbeabsichtigt kurzen und schnellen Schritten lag sie der Länge nach auf dem Bürgersteig. Florian bückte sich, hielt der Alten seine Faust direkt vor die Augen, eine eindeutige, leicht zu verstehende Drohung. Dann zerrte er der Frau den Riemen ihrer Handtasche von der Schulter, fasste ihn kürzer, damit die Tasche nicht so schlenkerte. Er richte sich von den Knien auf, knurrte sein Opfer an und hastete die abendlich leere Straße entlang. Eine Seitenstraße der Fischergasse oder der unteren Domberggasse würde ihm ein gutes Versteck bieten und die Möglichkeit, eventuelle Verfolger schon von Weitem zu erkennen. Später wollte er in die Nähe des Alten Gefängnisses zurückkehren, einige hundert Meter vom Ort des Überfalls entfernt. Den Hexenturm des barocken Gebäudes sah er schon, vielleicht würde er sich der Suche auch durch die Einkehr in das Weinlokal im Erdgeschoss entziehen.
Zwei, drei Minuten rannte er, unterbrach seinen Lauf nur, wenn er die wenigen Passanten entdeckte, denen er nicht verdächtig erscheinen wollte. Mehrmals schaute er sich um und sah wie erwartet niemanden hinter sich, der ihn womöglich verfolgte. Er lachte höhnisch. Wahrscheinlich lag die Alte noch auf dem Bauch. Es war ein leichtes Spiel gewesen. Er war jung, kräftig und war gewohnt, sich zu nehmen, was er haben wollte. Die Tasche gefiel ihm, sie hatte etwas mehr Gewicht, als er von solchen Überfällen gewohnt war. Ein gutes Zeichen.
Immer wieder sah er sich um.
Die Plakate waren ihm schon früher aufgefallen. Seit drei oder vier Tagen hingen sie überall in der Stadt. Für das kommende Wochenende hatte die Boxsportabteilung des SC Freising e.V. einen Boxkampf in der Luitpoldanlage arrangiert. In mehreren Gewichtsklassen würden die Besten aus der Region gegeneinander antreten. Er hatte sich umgehört, das Preisgeld für die Sieger kam ihm unanständig hoch vor. Er war ungehalten, denn das trieb auch die Eintrittsgelder in die Höhe. Sein Ärger verrauchte spontan. Zwar fand er die Preisgelder immer noch unverschämt unangemessen dafür, sich ein paar Minuten lang zu prügeln – er tat das des Öfteren in oder besser gesagt vor seiner Kneipe, ohne dafür kassieren zu können -, aber nun hatte er offenbar einen guten Fang gemacht, er würde sich einen Platz nahe am Ring leisten können.
Florian drückte sich in die Einfahrt. Drei Wagenlängen war sie tief, bot so eine ausreichende Rückzugsmöglichkeit, er könnte sich jederzeit hinter den beiden geparkten Fahrzeugen verstecken, falls jemand vorbeikäme.
Momentan hielt er sich auf dem vorderen freien Platz auf. Hier war das Licht von der Straße her am hellsten, er wollte wissen, was er erbeutet hatte. Seine Finger bekamen kaum den Reißverschluss auf, so zitterte er in seiner Erwartung. Dann der Schock. Florian zuckte zurück, als habe ihn aus der Tasche eine Tarantel angesprungen. Der Anblick einer Handgranate ließ ihn schaudern.
Endlich hatte von seinem Schrecken erholt, als er sich aus seiner Wehrdienstzeit ins Gedächtnis rief, dass die Granate solange Ruhe gab, bis man den Ring mit dem Splint abzog und den Sicherungsbügel losließ. Dermaßen beruhigt, ging er in die Hocke, klappte die Tasche weiter auf. Seine Finger umfassten die Handgranate vorsichtig, immer bemüht, von dem Sicherungsring möglichst weit entfernt zu bleiben, hoben sie aus der Tasche und stellten sie sanft auf das Basaltpflaster der Einfahrt. Florian wischte sich den Schweiß von der Stirn und untersuchte den Inhalt der Handtasche. Es war, was er zu finden gehofft hatte. Geld. Überraschenderweise nicht in einer Börse oder in einem Umschlag, in dem Rentner gern ihre abgehobene Rente verstauten, sondern lose wie hineingeschüttet. Er ließ die Scheine durch die Finger gleiten, zählte im Geiste überschlägig mit. Ihm wurde schwindlig. Es mussten zwischen 1500 und 2000 Euro sein.
Florian war so in Gedanken an seine Beute vertieft, dass er die Schritte überhörte, die sich der Einfahrt näherten. Er schaute erst auf, als ein Schatten ihm die Sicht in die plötzlich dunkle Handtasche nahm. Eine Faust näherte sich rasend schnell seinem Gesicht. Bevor sie traf, sah er, wie die lange, weiße Perücke samt dem albernen Hütchen zur Seite rutschte. Dunkle Koteletten erschienen auf der freien Seite. Das Haar auf dem Schädel war kurz, beinahe wie rasiert. Den zweiten Schwinger nahm er schon gar nicht mehr wahr.
Als er wieder zu Bewusstsein kam und sich aufrappelte, war er allein. In seinem Kopf pochte etwas. Dem Gefühl nach stand sein Unterkiefer etwas schief, aber das war wirklich nur Einbildung. Die Handtasche war zusammen mit der Handgranate und der seltsamen Alten verschwunden.
Langsam machte er sich auf den Heimweg, obwohl damit die Gefahr verbunden war, seine Wohnung zu verraten, falls man ihn verfolgte. Er ging gebückt, hinkte, versuchte die ganze Zeit über, die wachsende Schwellung an seinem Auge durch den Druck seines Handballens aufzuhalten und wischte sich gelegentlich mit seinem Taschentuch das Blut aus der gebrochenen Nase.
Während des ganzen Marsches zermarterte er sich das Hirn, woher ihm die Alte bekannt vorkam. Als er auf die nächste Plakatwand über den Kampf am kommenden Wochenende schaute, wusste er es.
Er schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn.
Hatte er sich ausgerechnet den Lokalmatador im Fliegengewicht als Opfer aussuchen müssen?
© 2021 Michael Kothe
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