Wir können nicht klagen

Von Silke Borchardt

Die Sonne schien kanariengelb und freundlich durch das runde Fenster in die Diele. Ruth stolperte fast über das Paket auf der Fußmatte, als sie mit dem dampfenden Milchkaffee in der Hand die Haustür öffnete, um in den Garten zu treten. Das heiße Getränk schwappte über den Tassenrand. Aua. Missmutig schob sie mit der Schuhspitze den Karton zur Seite und betrachtete nachdenklich den Bundesadler auf dem Adressaufkleber. Seit die Regierung vor einigen Monaten aus Infektionsschutzgründen auch die Supermärkte geschlossen hatte, wurden nun zweiwöchentlich diese Versorgungskisten geliefert. Sie erinnerte sich noch gut an die gespannte Vorfreude, mit der sie das erste Mal ausgepackt hatte. Und an ihre Enttäuschung, mit der sie dann Haferflocken, Mehl, Milchpulver, Margarine und Vitamintabletten in die Schränke sortiert hatte. Sie seufzte leise. Natürlich waren frisches Gemüse oder Obst nicht gut für den Versand geeignet, zu schwer, zu verderblich. Das sah sie ein. Heute, im dritten Jahr der Pandemie, ging es ja vordringlich darum, den Bedarf an Nährstoffen in der Bevölkerung sicherzustellen, nicht um Abwechslung auf dem Teller. Gut, dass sie den Garten hatte.
Die Vögel zwitscherten. Als sie den Blick schweifen ließ, sah sie ihre Nachbarin, die ihrerseits draußen eine erste Runde drehte. „Guten Morgen!“ rief sie über die Hecke. Leila drehte sich in ihre Richtung und winkte: „Guten Morgen! Wie schön, dich zu sehen. Alles gut?“ Ruth nickte. „Bestens!“ rief sie fröhlich. Sie hob ihre Tasse. „Mit einer Tasse Kaffee läuft es doch gleich besser.“ Leila machte runde Augen. „Ihr habt noch Kaffee? Hattet ihr so viel gebunkert?“ Ruth lachte. „Nein, Quatsch. Ich nenn es nur so. Ist das Getreidegetränk aus einem der letzten Versorgungspakete.“ Leila lachte jetzt auch. „Ach, der, ja. Mmh, lecker, stimmt‘s?!“ Beide schwiegen einen Moment. Ruth war sich sicher, dass auch ihre Nachbarin einen kurzen Moment lang wehmütig all die Lebensmittel vor ihrem inneren Auge entlangziehen sah, die es bei ihnen gegeben hatte, bevor der globale Handel zusammengebrochen war.
Sie überquerte die vom Tau noch feuchte Wiese und blieb vor den breiten Gemüsebeeten stehen, die sie angelegt hatten. Erste grüne Spitzen hatten sich durch die dunkle Erde geschoben und wuchsen dem Licht entgegen. „Petersilie“ stand auf einem der flachen runden Steine, die sie an den letzten inhaltsleeren Nachmittagen mit übrig gebliebener Farbe aus dem Hobbykeller beschriftet hatte. „Kartoffeln“ und „Zucchini“ auf zwei anderen.
„Wie geht‘s Max und Leonie?“, fragte sie Leila, die in gebührendem Abstand hinter der Hecke stand und offenbar ebenfalls versonnen das Wachstum in ihren Beeten betrachtete. Ihre Nachbarin hob den Kopf. „Ach, gut eigentlich. Sie streiten manchmal, wenn das Internet ausfällt, aber eigentlich kommen sie wunderbar zurecht. Sie haben ja beide ein eigenes Zimmer, da stören sie sich nicht bei den Schularbeiten.“ „Wie gut. Stell dir vor, ihr würdet in einer kleinen Wohnung leben, in der man gar keine Möglichkeit zum Rückzug hat. Furchtbar.“ „Ja, wir können eigentlich wirklich nicht klagen.“ Leila lächelte bemüht. „Könnte schlimmer sein.“ Ruth nahm einen Schluck von ihrem Getränk. „Schlimmer geht immer, stimmt‘s?“ „Genau. Augen zu und durch. Muss ja. Apropos. Ich muss mal nach den Kindern sehen. Hans ist in einer Videokonferenz, der kann sich nicht kümmern. Wir seh‘n uns!“ Sie drehte sich um und schlurfte in ihren Clogs zurück ins Haus. Ruth sah im Weggehen, wie sie mit einer entschlossenen Handbewegung die Jogginghose hochzog, die auf die Hüften gerutscht war. Eine tapfere Frau. Mit zwei kleinen Kindern seit so langer Zeit in einem Haus und Grundstück eingepfercht. Puh. Und ihr Mann schien wirklich keine Unterstützung zu sein. Als sie sich früher noch manchmal in der Siedlung auf ein Feierabendbier getroffen hatten, hatte er schon immer übellaunig gewirkt und ungeduldig mit den beiden Kleinen geschimpft, wenn die übermütig lachend mit den anderen Fangen gespielt hatten. Sie mochte sich nicht ausmalen, wie seine Laune sich in den letzten Jahren entwickelt hatte. Wann hatte sie ihn eigentlich zuletzt gesehen? Musste fast ein Jahr her sein. Im Garten traf sie eigentlich immer nur seine Frau.
Ruth ließ sich auf einen der Gartenstühle fallen und streckte die Beine aus. Auf den geschlossenen Augenlidern spürte sie die Wärme der Frühlingssonne. Die morgendliche Stille der Reihenhaussiedlung umfing sie. Vor ihrem inneren Auge sah sie, wie sich hinter den Mauern fleißige Kinderköpfe über Tablets beugten, während die Erwachsenen im Zimmer nebenan Büroarbeiten erledigten oder in der Speisekammer den Sauerteig fütterten. Nur noch ganz selten rumpelte der Linienbus durch ihre Straße und Autos waren kaum zu hören. Die allgemeine Ausgangssperre war wirklich eine Wohltat. So ruhig war es hier früher nicht gewesen. Allein der Fluglärm hatte nicht selten dazu geführt, dass man Gespräche am Gartentisch unterbrechen musste, weil man kein Wort des anderen mehr verstand. Seltsam. Das schien ihr schon so weit weg. Besuch bekommen. Verrückt.
Sie schüttelte den Kopf und öffnete die Augen. Ein Geräusch in den Beeten ließ sie aufmerken. Als sie sich umdrehte, bemerkte sie eine junge Amsel. Emsig hüpfte die in der Gartenerde hin und her, pickte und hackte mit ihrem leuchtend gelben Schnabel nach Insekten. Ruth runzelte die Stirn. Die zarten Pflänzchen bogen sich bedenklich unter dem Vogelkörper. Da sah sie, wie die Amsel begann, mit dem Schnabel einen der zarten Keimlinge zu packen und aus der Erde zu ziehen. Eine Welle heißer Wut schlug in ihr hoch. Ohne nachzudenken holte sie aus und schleuderte ihre leere Tasse nach dem Vogel. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Ein merkwürdiger Laut entfuhr dem Tier, als es beim Aufflattern von der schweren Tasse getroffen wurde. Es ging zu Boden und hockte zitternd da. Ein Flügel hing kraftlos herunter. Ruth stürzte zum Beet. Der Vogel hopste panisch im Kreis, blieb dann wie gelähmt hocken. Die schwarzen Knopfaugen starrten sie an, als sie sich keuchend neben ihn kauerte. Im Blick des Tieres spiegelten sich Verzweiflung und Schmerz. Sie nahm ihn behutsam in die Hand und umfing den hektisch flatternden gesunden Flügel mit der anderen. Sie spürte sein kleines Herz zwischen ihren Handflächen pochen. Tränen stiegen ihr in die Augen und liefen über ihre Wangen. Plötzlich verließ sie alle Kraft. Sie sank zur Seite um und drückte den verletzten Vogel an ihre Brust. Unter ihr knickten die Sprösslinge um. Sie schluchzte laut auf.

Ihr Mann fand sie nachmittags, als er nach seiner letzten Onlinebesprechung in den Garten trat. Zitternd und mit leerem Blick lag sie am Boden, im Gesicht Spuren der dunklen Gartenerde, den toten Vogel zwischen den Händen. Ein schwarzer Flügel hing schlaff aus ihrer geballten Faust heraus. Als er sie ansprach, reagierte sie nicht. Die Sirene des Rettungswagens zerschnitt kurz darauf gellend die Ruhe der Reihenhaussiedlung. Geistesabwesend sah er zu, wie zwei Sanitäter und ein Notarzt aus dem Wagen sprangen und mit geübten Handgriffen Ruth auf eine Trage legten und ihr ein Beruhigungsmittel injizierten. Das Zuschlagen der Türen echote in seinem Kopf, als er dem abfahrenden Wagen nachsah. Dann wurde es still. Müde begann er, das Beet, in dem der Abdruck ihres Körpers noch zu sehen war, glatt zu harken. Als er den Blick hob, sah er Leila, die erschrocken aus dem Fenster des Nachbarhauses zu ihm herabblickte. Er hob die Harke und winkte ihr kurz zu. „Alles in Ordnung.“, rief er. „Macht euch keine Sorgen!“ Die Vögel im Garten zwitscherten.

© 2021 Silke Borchardt
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