Von Niklas Götz
Unter den abertausenden von rosa Zuckerguss pappig triefenden Poesiealben- und Postkartensprüchen, gibt es einen, den ich einfach nicht aus den Kopf kriege, der sich festgeklebt hat.
“There’s nothing in a caterpillar that tells you it’s going to be a butterfly”
Abgesehen davon, dass sich jeder Biologe bei diesem Statement nur kopfschüttelnd auf die Zunge beißen kann, frage ich mich: muss die Raupe denn zu einem Schmetterling werden? Ist es nicht genug, Raupe zu sein? Sind zwei bunte Flügel und eine lange Zunge alles, wofür es wert ist zu leben?
Eine Raupe lag mir immer besonders am Herzen. Die kleine Raupe Nimmersatt war mein Lieblingsbilderbuch. Eigentlich ist es das immer noch. Wie in jedem meiner Lieblingsfilme und Bücher ignoriere ich konsequent das Ende – Star Wars gefiel mir zum Beispiel als Kind am besten, solange ich noch die Hoffnung hatte, dass das Imperium und sein konsequentes , postmodernes Design gewinnen. Heutzutage wäre ich enttäuscht dass Todessterne anscheinend von Berliner Flughafenarchitekten gebaut werden.
Ohne das Ende ist die Story der Raupe Nimmersatt einfach toll: eine kulinarisch flexible Raupe genießt ihr Leben und isst sich durch alles, was die moderne Lebensmittelindustrie zu bieten hat, bis sie am Ende der Woche von zu viel Zucker und Geschmacksverstärker high wird. Klingt nach Weihnachtsferien.
Mit dem eigentlichen Ende offenbaren sich ganz neue Deutungsmöglichkeiten: Eine vereinsamte Raupe substituiert soziale Beziehungen mit Essen, bis sie sich für einen mehrwöchige Sonnenfastenaushungerungskur in einem Kokon aus getrockneten Körpersekreten entscheidet, um dann am Ende als exzentrisch geschminketes Magermodel aus dem Lockdown zu entfliehen und sich nur noch von einem Tropfen Nektar pro Tag zu ernähren.
Ich kann mich viel besser mit der ersten Version identifizieren. Ich ess mich lieber quer durch die Küche als ein Schmetterling zu sein, zumal Flügel auch echt unpraktisch sind um auf dem Sofa herumzulungern.
Ich stelle mir die kleine Raupe Nimmersatt sehr glücklich vor, zumindest vor der Verpuppung. Sie war nie mit Problemen außerhalb der Speisekammer konfrontiert. Die Raupe Nimmersatt musste nie zur Schule, zum Studium, zur Ausbildung gehen. Niemand hat von ihr erwartet ein Bücherwurm zu sein, sich durch tausende Seiten veralteten Wissens zu fressen um dann nach der Prüfungsphasenverpuppung wieder neu aufzuerstehen. Niemand hat von ihr erwartet, ein ganz neues Insekt zu werden, weil die Corporate Identity nunmal von Schmetterlingen geprägt ist und es der Kunde erwarte dass alle Mitarbeiter Flügel haben und emsig von Blüte zu Blüte fliegen und dabei auch noch verdammt gut aussehen, anstatt sich über Blätter herzumachen. Niemand hat von ihr erwartet, jeden noch so nervigen Mitarbeiter oder Vorgesetzten mit bezirzenden Flügelschlägen zu beruhigen und so zu tun, als würde man sie nicht am liebsten bespucken.
Die kleine Raupe Nimmersatt musste nicht arbeiten. Ihre Träume lagen direkt vor ihr, sie musste sich nur durch die Schale des Apfels fressen. Sie konnte bleiben wie sie ist. Warum hätte sie sich je verändern wollen?
Vielleicht war die kleine Raupe Nimmersatt einsam. Vielleicht war auch das der Grund warum sie von Tag zu Tag die Gesellschaft von einer immer größeren Anzahl an Früchten suchte. Was sonst verändert uns so sehr als der Wunsch, anderen zu gefallen? Manchmal wollen wir uns verwandeln, um wie all die anderen Raupen zu sein, essen Würste statt Äpfel weil die “coolste” Raupe im Garten das für besonders angesagt hält. Manchmal wollen wir aber auch nur einer bestimmten Person gefallen, oder sie glücklich machen, selbst wenn sie uns gar nicht anders wünscht. Vielleicht war die kleine Raupe Nimmersatt mit dem nichtganzsokleinen Schmetterling Nimmerruh zusammen und wusste, dass er nur glücklich sein kann, wenn er fliegt. Und deshalb wollte sie mit ihm fliegen und ihr liebstes und einziges Hobby dafür aufgeben.
Vielleicht mag ich das Buch dann doch mehr mit dem Ende. Vielleicht wollte sich die Raupe verpuppen, nicht weil es von ihr erwartet wird, sondern um jemanden glücklich zu machen, ohne dessen Glück der beste Lolly für sie fade schmecken würde.
Die kleine Raupe Nimmersatt hat neben einer Raumzeitsingularität als Magen eine weitere Superpower, die mir fehlt: sie kann sich verpuppen, wenn sie es möchte.
Aber vielleicht liege ich auch falsch und sie hatte keine Wahl. Genauso wie ich keine Wahl habe, mich zu verändern. Ich habe so viele Äpfel gegessen und mich doch nie verpuppt. Ich weiß, dass es jemanden sehr glücklich machen würde, wenn ich anders wäre, öfter mit bunten Flügeln schlagen könnte und zur richtigen Zeit Nektar bei mir hätte. Doch so oft ich mich am Blatt habe herunterhängen lassen, so wenig hat es mir je Flügel beschert. So gerne wäre ich ein Schmetterling, um mitzufliegen. Doch vielleicht bin ich keine Raupe Nimmersatt, sondern nur ein sehr hungriger Wurm.
© 2021 Niklas Götz
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