Von Michael Wiedorn
Ich bin nicht geboren worden. Im Turnunterricht ließ uns der Lehrer über den Bock springen. Ich stand vor diesem Turngerät. Was kann mein Körper? Seine Fähigkeiten ermöglichen mir Freiheiten die Weiten der Außenwelt zu erkunden. Ein kranker Rumpf mit schadhaften Organen wird mir ein lebenslänglicher Kerker bleiben. Ein Vogel breitet die Flügel aus und überwindet Zeit und Raum. Hinter mir kicherten meine Klassenkameraden und wurden langsam ungeduldig. Der Körper zerbricht und verfault. Er schafft Dreck und ist Dreck. Ich bin ich und mein Körper hält mich als stinkendes, einsames Tier gefangen. Die Härte der Knochen hält das Ganze zusammen.
Nachmittags saß ich am Esstisch und versuchte eine Rechenaufgabe zu lösen. 434 : 112. Ich spielte mit den Ziffern und sah Bilder in den Ziffern. Die Eins war ein magerer Mann, der mit einem Arm irgendwohin zeigt. Die Sechs war eine Schwangere. Meine Mutter lag Tage lang im Bett und rief ab und zu durch die geöffnete Schlafzimmertüre: „Lerne fleißig für die Schule. Andere Kinder schaffen auch die Schule. Warum versagt nur mein eigenes Kind? Fleiß und Disziplin sind die Grundlagen des Lebens.“ Wir leisteten einander Gesellschaft in unserer Hilflosigkeit gegenüber der Erwachsenenwelt. Mitten unter meinen Schulkameraden saß ein unheimlicher, steinalter Zwerg, der nicht sprechen, nicht springen und spielen konnte. Sie starrten mich befremdet an und es graute ihnen beim Anblick eines lebendig Begrabenen. Der Fremde ist beim Geburtsversuch in der Gebärmutter stecken geblieben. Er hält sich im Leeren auf. Meine Mutter war nie verheiratet gewesen, hatte sich nie von einem Mann beschmutzen lassen. Wir beide verachteten Männer. Tiere schwitzen und ihr Zorn zerreißt die Unschuld.
Sie verbrachte ihre Tage damit auf einem Stuhl zu sitzen und stumm aus dem Fenster zu blicken. An anderen Tagen blieb sie im Bett. Ihre kleinen Augen blickten durch mich hindurch. Waren ihre Augen schwarz oder blau? Hatte sie überhaupt Augen? Ihre schlaffe, käsige Haut. In ihrem Körper floss kein Blut und ihre Glieder waren eiskalt. Ihr aschblondes Haar fiel ihr strähnig auf die Schultern. Sie fühlte sich nie anwesend.
Die Hefte und Schulbücher lagen aufgeschlagen vor mir. Unentzifferbare Hieroglyphen und Chiffren füllten die Seiten. Ich versuchte eine Aufgabe anzugehen und las die Zahlen, verlor mich in Gedanken, Tagträume und Erinnerungen an banale Ereignisse am Vormittag in der Schule oder auf dem Schulweg. Die Schüler saßen alle im Schulbus auf dem Heimweg. Der Bus hielt an. Wer war die fremde, alte Frau, die einstieg und sich auf einen freien Sitzplatz setzte? Ihr standen große, gelbe Zähne im Gesicht, als wollte sie ins Fleisch eines Kindes eindringen. Wir fuhren am Supermarkt vorbei, an der Tankstelle, am Parkhaus. Die Polster der Sitze im Bus waren wie Tigerfelle gestreift. Die schwarzen Linien begannen sich wie schwarze Würmer und Schlangen zu winden. Die Polster pulsierten und atmeten. Wir saßen auf schlafenden Tigern.
Meine Mutter stand plötzlich vor mir und sagte fast triumphierend: „Du schaffst es nicht. Bemühe dich nur! Strenge dich nur an!“ Ich hatte garnicht gemerkt, dass sie aus dem Bett gestiegen und an den Tisch getreten war. Das helle Licht des frühen Nachmittages, an dem ich mit den Schulaufgaben begonnen hatte, war dunkler geworden. Ich blickte auf die Wanduhr und sah, dass ich die letzten Stunden gerade mal eineinhalb Seiten vollgeschrieben habe. Es war schon früher Abend. Der ganze Nachmittag war verloren gegangen. Morgen wird es genauso laufen. Es wird immer so bleiben, dass nichts in meinem Leben vorwärts geht. Ich werde nie erwachsen. Meine Mutter wird nie altern und war nie jung. Ich verliere mich und verlor mich immer tiefer in die Höhlen und Gänge meiner Leere. Immer diese Mattigkeit und nachts dann das gespenstische Hindämmern. Graue Nebel immer tiefer in die Leere hinein. Die Englischlehrerin schrieb etwas auf die Tafel. Ihr Gesicht war uns abgewandt. Die Pausenklingel schrillte. Sie wandte uns ihre Gesichtsfläche zu. Statt eines lebendigen Gesichtes grinste uns die Vorderseite eines Totenschädels an. Wir packten unsere Pausenbrote aus dem Schulranzen und eilten fröhlich auf den Schulhof.
Meine Mutter saß auf dem Stuhl am Fenster mit dem Rücken zu mir und versank in ihre eigene Leere. Sie teilte nie etwas mit. Sie war mir ein undurchdringlicher Gegenstand in Menschengestalt. Sie glaubte nicht an mein Dasein. Das Fenster, an dem sie saß, ging auf eine ruhige Seitenstraße. Gründerzeitvillen, Buchen, parkende Autos. Sie sah diese Straße nicht und glaubte nicht an ihre Existenz. Sie blickte vor sich hin.
Ich verlor mich in vormittagshellen Korridoren und fiel. Weiß gestrichene Wände.
Fiebernd liege ich in einem Krankenbett und bin kein Kind mehr. Keine Lust und keine Trauer. Außer dem Bett ist das Zimmer leer. Keine Türen. Keine Fenster. Ich war noch nie woanders. Niemand hat mich jemals gesehen.
© 2021 Michael Wiedorn
Alle Rechte vorbehalten