Eine Haut aus Bildern

Von Michael Wiedorn

Sein Körper ragt weit in die silbernen Wolken hinauf. Das schwarze Haar ist zurückgekämmt. Es glänzt wie ein schwarzer Teich im Mondlicht, wie schwarzer Marmor. Seine Haut löst sich in eine eigene Welt tätowierter Bilder auf. Schmerzende Stiche trennen Rumpf, Arme, Beine, Schädel in zerstiebende Bilder auseinander. Schneidende Schmerzen, die das Blut rinnen lassen, zeugen eine eigene Welt. Ein Kreuz, an dem ein schreiender Leib hängt – das Haupt von Dornen gekrönt, den Rumpf von verzehrenden Wunden zerrissen – überzieht seinen kräftigen Rücken. Muskeln schmieden den Leib zusammen. Der Bildhauer gibt dem Erz seine Gestalt. Ein Adler aus azurblauen Linien entflieht seinem Halsmuskel. Das Blau seiner Augen blicken voll Vertrauen und Freundschaft in die Welt. Mit zärtlichem Blick – Glaube, Liebe, Hoffnung – dringt er einem Mitmenschen durch die Augen ins liebende Herz und seine ihm selbst fremde Faust verwandelt sich unterdessen in einen todbringenden Schlagring. Der Tätowierte lächelt liebevoll. Er ist gleichgültig gegenüber fremdem Schmerz. Er weiß von seinem Eigenen nichts. Seinen Händen macht es Freude Leid zuzufügen. Seine Zärtlichkeit. Der Lebenskraft seines Körpers reicht das Hausen in seinem eigenen Rumpf nicht aus. Die Haut ist von der Sonne verbrannt. Er hält sich den ganzen Tag über im Wehen der Winde auf, unter dem Brand der Sonne, in der Feuchtigkeit des Regens. Aus seinem dreckverseuchten Inneren steigen Gifte auf und verunreinigen seine Haut unter den Bildern. Seine Hände demütigen andere Menschen. Ein kindlich junges Mädchen blutet am Strand aus. Nachts lief sie unter den Klippen um den Neumond zu ertappen. Schreiend weint sie. Seine roten, fülligen Lippen beben leicht beim Anblick ihres Gewimmers. In seinem starr zudringlichen Blick liegt unterwürfige und demütige Treue. Kann er nichts wirklich ernst nehmen? Menschen leben oder sind tot. Man stirbt durch einen dummen Zufall oder durch eine Krankheit. Der Gezeichnete achtet nie auf den Straßenverkehr. Die Autos fahren durch ihn hindurch ohne ihm den geringsten Ritz zuzufügen. Ihm ist es gleich auf lockeren Brettern über schwindelerregenden Höhen zu laufen und in die Tiefe abzustürzen. Sein Tod soll leicht und zufällig sein. Soll er nicht eines Tages vorbeikommende Passanten auf der Straße niederschießen? Er lebt gerne, aber Tote wissen nichts über ihre Abwesenheit. Er steht auf einer Klippe. Tief unter ihm breiten sich die Abgründe des Meeres aus. Er steht auf den Zehen. Ein leichter, ganz zarter Stoß würde ihn viele hundert Meter in die Wogen stürzen. Nackt eingehüllt in das weiße Mondlicht. Der Mond liebt ihn. Die Kraft der Wellen und der Gestirne. Der Einsame löst sich von der Klippe und statt abzustürzen, hebt er ab. Er verwandelt sich in den auf seinem Halsmuskel tätowierten Adler und fliegt zur Mondscheibe hoch. Seine Menschenleiche liegt zerschmettert auf dem Strand und wird fortgespült. Der junge Mann ist nicht tot, sondern verwandelt. Nach langer Zeit kehren die nie Verstorbenen wieder zu ihrem letzten Aufenthaltsort zurück.
Er steht in einer wildfremden Wohnung. Ein von mehreren Kugeln zerfetzter Greis liegt ihm zu Füßen. Rote Nässe klebt und färbt Wand und Boden. Der Gezeichnete sieht einen Revolver in seiner Hand. Wer hat sie ihm in die Hand gedrückt? Eine Hand legt sich ihm von hinten auf seine Schulter und nimmt ihm sachte die Waffe ab. Er ist ein eingefangenes Reh. Er fühlt gar nichts. Auch keine Angst. Wer ist der Alte auf dem Boden? Wo befindet sich der Tätowierte? Wie ist er hereingekommen? Ein zweiter Mann stellt sich vor ihn und legt ihm Handschellen an. Der junge Mann läßt sich widerstandslos abführen. Warum sollen sie ihn nicht an den nächsten Galgen hängen? Vielleicht wäre er ihnen sogar behilflich. Der junge Mann lächelt sanft. Seine roten, glänzenden Lippen. Er lebt. Die Handschellen reiben ihm die Haut an den Handgelenken wund. Die Haut des Gekreuzigten auf seinem Rücken blutet. Die Bilder auf seiner Haut lösen sich ab. Der in Menschenhaut gehüllte Adler fliegt. Was hat der Verdächtige in den letzten Stunden und Tagen getan? Der Verhaftete kann sich an sein eigenes Leben nicht erinnern. Er steht nachts auf der Klippe. Sein Leib bebt vor Lust. Unter seinen Füßen schwindet der Boden. Er ist ein aus einem Menschen gezeugter Adler Das weiße Mondlicht. Auf der Wache veranstaltet man mit ihm einen Drogentest. Es konnte ihm kein Drogengebrauch nachgewiesen werden. Man nimmt ihm noch die Fingerabdrücke ab. Sie waren bisher nirgends registriert. Für die Polizei ist der Fall klar. Der Verdächtige ist sicher schuldunfähig. Sie sperren ihn in eine freie Zelle. Das Blut fließt wie bei Schlachtvieh aus dem angespannten, vor Schmerz zusammengekrampften Körper am Kreuz. Der Gefangene ist dingfest in die Gegenwart zwischen die Härte der Mauern fixiert worden. Er legt sich auf die Pritsche. Auf dem Rücken liegend sieht er ins blendende Licht der an der Decke hängenden Glühbirne. Er blickt ins Licht. Immer ins Helle. Er läuft und läuft in den silbernen Vollmond. Aus dem Dunkel der Felder und Wälder beobachten ihn Augen. Er rennt schneller und schneller. Die Zelle ist leer.

© 2021 Michael Wiedorn
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