Wir beide

Von Michael Wiedorn

Wir betreten das Haus. Draußen regnet es. Beim Eintritt schlägt uns die Trauer eines verlorenen Lebens entgegen. Das Haus ist am Tage seines Verschwindens endgültig in seiner Leblosigkeit erstarrt. In den Räumen stinkt es modrig und verfault. Altes Fleisch. Ich schalte das Licht an. Es flackert kurz auf und zeigt blitzartig zerborstene Holzstücke von Möbeln, abgestandenes Essen auf dem Tisch. Im kurzen Aufflackern scheint mir, als säße der Verschollene aufrecht an einem Tisch und beobachtete uns schweigend. Das elektrische Licht erlischt schlagartig wieder und das Dunkel verschluckt wieder alles. Diese grausame Neugier hat das besser ins Dunkel verborgen Gebliebene in seiner Widerlichkeit bloßgestellt. Ein steinzerschmetternder Donner schlägt uns in Herz und Magen. Ohne Licht tasten wir uns vorwärts auf den verfaulten Holzbohlen. Die Regentropfen trommeln kraftvoll gegen die Fensterscheiben, als wären sie zornig darüber draußen in die Abenddämmerung ausgesperrt zu sein. Das Land versinkt in die hereinbrechende Nacht. Wir stehen jetzt im Treppenhaus. Im wachsenden Schwarz erkennen wir mit Mühe eine Wendeltreppe aus Holz nach oben. Mein Begleiter starrt mich einen Augenblick an. Ich verstehe nicht, was in ihm vorgeht. Er dreht sich dann weg und wir tasten uns gemeinsam ganz vorsichtig die Treppe hoch. Ich lasse meinen Partner vor mir die Stiege hochgehen. Das Schwarz seines Rückens kann ich kaum vom Schwarz der Umgebung unterscheiden. Fast haben wir das Obergeschoss erreicht. Wir atmen schwer. Etwas Ungreifbares flattert auf und bringt mich aus dem Gleichgewicht. Hackt mir tatsächlich der spitze Schnabel eines Vogels die Augen aus? Bluten meine Augen? Die dunkle Silhouette meines Partners hat sich vor mir aufgebaut und reißt mich zu Boden. In seiner Hand glänzt etwas. Ein Stoß klafft mich auf.Wellen und Wogen stürzen in die Weite. Der Vogel sitzt mir auf den Därmen und ich stürze in die tiefe Schwärze des Hauses.
Der Verschwundene sitzt bleich und allein am Esstisch. Er stützt nachdenklich die Stirn auf den Ellbogen. Er ist in sich versunken. Die Eintönigkeit der Tage und Jahre, die er verlassen und tatenlos in diesem Haus verbracht hat, verzehrt ihn. Draußen rauscht der Regen. Ich sitze hier am Küchentisch und lausche nur auf den Regen und an trockenen Tagen schläfert mich die Stille ein. Manchmal höre ich überhaupt keinen Laut. Vielleicht bin ich stocktaub. Blind in der Lichtlosigkeit der Gefangenschaft. Ich bleibe am Tisch sitzen und stehe nie auf. Das vor Ewigkeiten aufgetragene Essen ist aufgeweicht und löst sich grau und blau auf. Unter der Erde ist es still wie hier. Mein Körper ist übersät von roten Ausschlägen, die sich als Wunden öffnen. Die schwarzen Flügel eines Vogels flattern und ein spitzer Schnabel durchdringt das Dunkel. Mein Partner säubert mit einem Taschentuch sein Messer. Mein Wärter. Ich werde nie nach oben kommen.

© 2021 Michael Wiedorn
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