Abgesang

Von Johannes Morschl

Ist höchste Zeit, die Bühne zu verlassen. Bin der immer gleichen Schmierenkomödie müde geworden. Habe viel zu lange den Hanswurst gegeben, den schizoiden Trunkenbold, den Hungerkünstler, das verkannte Genie. Bin heruntergekommen, bin am Ende, habe Bombentrichter in der Seele. Habe aber immer Shakespeare verehrt.

Der Mensch ist im Grunde genommen noch ein Affe. Das zeigt sich an seinem ganzen Gebaren. Die ganze Stadt scheint mir ein einziges Freigehege für diese Affenart zu sein. Gehöre auch dazu, bin ein alter weißhaariger Affe, ein schreibender Affe, ein Schriftsteller-Affe. Habe aber keine Idee mehr, was ich schreiben könnte. Es wird sowieso viel zu viel geschrieben. Lese nur ein paar Sätze in einem Buch und merke sofort, dass es sich bestenfalls um gepflegte Langeweile handelt. Werde dann müde und muss gähnen. Schneide dann Grimassen, verdrehe die Augen, strecke die Zunge raus, rülpse und furze. Sage: „Pfui Deibel, wie es hier stinkt! Wer war das?“ Behaupte, das wäre Shakespeare gewesen, so als ob ich Shakespeare wäre. Ist reinster Größenwahn. Werde nie an Shakespeare herankommen, nicht einmal beim Rülpsen und Furzen.

Na, und die Liebe! Weiß ja gar nicht mehr so recht, wie Liebe geht. Habe mich immer zum Affen gemacht, wenn ich verliebt war. Habe mich sozusagen als Affe noch mehr zum Affen gemacht. Habe die Frauen angehimmelt, war sexbesessen, wurde rasend eifersüchtig, wenn sie sich einem anderen Affen zugewandt haben. Litt dann Höllenqualen, dachte nur noch an Selbstmord, konnte mich aber nie dazu durchringen, mich eigenhändig um die Ecke zu bringen. Hatte letztendlich immer nur ein Verhältnis mit mir selbst. Hat schon der alte Walli in der Nulpe zu mir gesagt. Die Nulpe war meine Stammkneipe, befand sich in der Yorckstraße in Kreuzberg, war ein ziemlich verranztes Lokal, nannte sich aber gutbürgerlich Kaffeehausgalerie. Die Nulpe gibt es schon lange nicht mehr. Hatte dort Walli kennengelernt. Er sagte zu mir: „Du hast nur ein Verhältnis mit dir selbst.“ Habe das damals vehement von mir gewiesen, musste ihm aber im Nachhinein recht geben. Walli war ein echter Affenkenner, war auch der Tröster der unglücklichen Frauen, deren Kerle fremdgegangen sind oder sie verlassen haben. Ständig haben sich Frauen bei ihm ausgeweint.

Walli war in der Nazizeit ein paar Jahre im KZ, in Sachsenhausen und dann in Buchenwald. Galt als politischer Häftling, war in der Weimarer Republik bei der KPD und wirkte in einem linken Kabarett in Berlin mit. Erzählte mir, wenn die SS gewusst hätte, dass er schwul war, hätte er nicht überlebt. Jetzt ist Walli bereits im Jenseits. Sehe ihn dort in Gesellschaft von jungen tunesischen Männern, die er auf Erden so sehr geliebt hat. Brachte ihnen immer Geschenke mit, wenn er nach Tunesien fuhr, zum Beispiel Kofferradios, die bei den jungen Tunesiern sehr begehrt waren. Man könnte einwenden, das war Touristensex. Aber Walli war kein normaler Tourist, war beliebt bei den jungen Tunesiern, weil er immer mit ihnen herumalberte. Ich habe das selbst miterlebt, als ich ihn einmal bei einer Tunesien-Reise begleitete. Wenn er von einer Tunesienreise zurückkam und man ihn fragte, wie es war, sagte er mit verklärtem Blick: „Halb nahmen sie mich, halb sank ich dahin.“ Erzählte mir auch, Anfang der 50er-Jahre Picasso an der Côte d‘Azur besucht zu haben. Als ehemaliger kommunistischer KZ-Häftling fand er problemlos Zutritt bei ihm. Im Gegensatz zu Salvador Dali, der ein Anhänger von General Franco war, war Picasso Kommunist, Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs. Walli hat Picasso auch nackt am Strand herumlaufen gesehen und war von dessen großen Schwanz fasziniert, der angeblich in einem auffälligen Kontrast zu seinem kleinen Wuchs stand. Picasso war nur 1 Meter 60 groß. Bei Wallis Schwärmen von Picassos Schwanz hätte man denken können, der Schwanz müsse fast genauso groß wie sein Besitzer gewesen sein. Picasso war aber immer von Frauen umgeben, an seinen großen Schwanz war nicht heranzukommen.

Denke mit Wehmut an Walli zurück, er hat das Affentheater auf Erden längst hinter sich. Werde es auch bald hinter mir haben, gebe mir noch höchstens zehn, zwölf Jahre. Ist sowieso ein Wunder, dass ich noch lebe, wenn man bedenkt, wie ich gelebt habe. Habe ja fast keine Droge ausgelassen. Jedoch hielten mich die zähen Gene der väterlichen Seite bis heute am Leben. Sowohl mein Vater als auch sein Vater waren große kräftige Kerle, wurden beide weit über achtzig Jahre alt. Großvater väterlicherseits war ein alter Militärschädel, ehemaliger Berufssoldat in der österreichisch-ungarischen Armee. Diente in einem ungarischen Husarenregiment und gehörte später zur Wachmannschaft der Hofburg in Wien, wo Kaiser Franz Joseph residierte. Wurde von diesem zum kaiserlich-königlichen Oberhofleiblakei ernannt. Besitze noch heute diese absurde Ernennungsurkunde. Er musste aber dem Kaiser nicht den Arsch abwischen, sondern nur die Hofburg bewachen. Sagte, die Monarchie sei nur deshalb zugrunde gegangen, weil Kaiser Franz Joseph immer seniler wurde und die Armee von unfähigen Adeligen befehligt wurde. Glaubten, der Krieg sei wie ein großes Manöver. Ließen im Ersten Weltkrieg russische Artillerie-Stellungen mit der Kavallerie angreifen. Von der Kavallerie blieb danach nichts mehr übrig. Großvater blieb bis an sein Lebensende Monarchist. Die Nazis hat er abgrundtief verachtet, die waren für ihn der allerletzte Pöbel, schlimmer noch als die von ihm ebenfalls zutiefst verachteten Kommunisten. Doch was erzähle ich da, ist alles Schnee von gestern. Drohende Wolken verdunkeln das Licht. Die braune Pest breitet sich wieder aus, ist heute mit blauer Farbe getarnt. Auch Hitler kam über Wahlen an die Macht.

Halt! Ich rutsche ins Politische ab, wollte ich eigentlich vermeiden, ist ein äußerst unerfreuliches Thema. Man kann ja in dieser Welt nur Weltverweigerer werden. War eigentlich von Geburt an Weltverweigerer, habe schon als Baby gegen diese Welt protestiert, habe immer wieder gegen diese Welt, in die ich ungefragt hineingeworfen wurde, angeschrien, habe mit meinem Schreien meine arme Mutter zur Verzweiflung gebracht. Mein Vater hat das weniger mitbekommen, der war ja von früh bis spät in der Arbeit, war Dreher, Schlosser, Schweißer und Werkzeugmacher, bildete auch Lehrlinge aus, war von Jugend an aktiver Gewerkschaftler, hat Mutter in der Sozialistischen Arbeiter-Jugend kennengelernt, hat sich immer mit seinem monarchistischen Vater über Politik gestritten, war ein herzensguter Mensch, habe ihn als Kind sehr geliebt. Er trug mich auf dem Rücken, wenn es in die Berge ging, fühlte mich dabei wie Hannibal auf seinem Elefanten. Habe ihn aber später enttäuscht, da ich unbedingt Maler werden wollte. Das war für ihn kein richtiger Beruf, da dachte er wie sein Vater, der von Malern gar nichts gehalten hat. Großvater hat noch im Sterbebett zu ihm gesagt, er solle mich ja nicht Maler werden lassen, denn sonst würde ich bei einem alten homosexuellen Maler in Schwabing als dessen Lustknabe landen. Keine Ahnung, wie er darauf gekommen war. Und warum ausgerechnet in Schwabing? War wohl für ihn das Sündenbabel überhaupt.

Das Leben ein Traum? Bald ist der Traum aus. War manchmal auch ein Albtraum. Bald haben sich die Nachtgespenster für immer verzogen. Träume mich in sentimentalen Augenblicken auf jenen Hippiestrand an der Südküste Kretas zurück, als ich noch ein gutaussehender langhaariger Jüngling war, wenn auch zu lang und zu dünn, man konnte die Rippen bei mir hervorstehen sehen. Erinnere mich, wie meine damalige französische Freundin Juliette nackt und braungebrannt auf einer Klippe stand und von den heran brechenden Wellen und dem warmen Südwind, der von der Sahara her übers Meer wehte, ohne eigenes Zutun einen Orgasmus bekam, sozusagen einen Wind- und Wellenorgasmus. War damals in einer Dreierbeziehung mit ihr und meinem besten Freund. War nicht unkompliziert, hielt auch nicht lange. Juliette stammte aus Charlesville nahe der belgischen Grenze. Einzige größere Bedeutung: Geburtsstadt von Arthur Rimbaud, dem jungen französischen Dichtergenie. Steht auch ein Denkmal von ihm dort. Rimbaud floh aber schon in jungen Jahren nach Paris, hatte dort ein Verhältnis mit dem verheirateten Dichter Paul Verlaine. Man kann nur aus Charlesville fliehen, ist viel zu langweilig und spießig. Auch Juliette ist aus Charlesville geflohen. Ihre Mutter mochte mich nicht, war Rassistin, nannte mich hinter meinem Rücken weißer Neger und Giraffe. Das hat mir Juliette erzählt, ich lachte nur darüber.

Schrieb damals noch nicht, sondern malte. Hätte bei der Malerei bleiben sollen, hätte das Schreiben lassen sollen, war weitaus mehr fürs Malen talentiert, habe immer nur verschrobenes Zeug geschrieben, kann auch gar nicht anders, als verschrobenes Zeug zu schreiben. Bin aber nie so weit wie die Dadaisten gegangen, wollte noch einigermaßen verständlich bleiben. Wollte mich mit dem Schreiben aus dem trostlosen Alltag beamen. War ja immer ein armer Hund, musste immer malochen gehen, um überleben zu können. Saß an so manchem Fließband in Berlin., war Nachtwächter, Lagerarbeiter, Hilfsbühnenarbeiter, und dergleichen mehr. Geld hielt nie lange bei mir, konnte nie mit Geld umgehen. Habe aber immer Shakespeare verehrt.

To be or not to be, that is the question. Diese Frage hat sich für mich in absehbarer Zeit von selbst erledigt. Ist höchste Zeit, die Bühne zu verlassen. Bin der immer gleichen Schmierenkomödie müde geworden.

© 2021 Johannes Morschl
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