Von Daniel Redel
Es geschah vor langer Zeit in einem kleinen Dorf, fernab allen Trubels der großen Städte.
Es war ein wirklich winziges Dorf, kaum dreißig Menschen lebten dort. Neunundzwanzig, um genau zu sein, denn die Dorfälteste hatte vor wenigen Tagen einen Herzinfarkt, nachdem sie erfuhr, dass ihre einzige Tochter nun doch nicht ihre Änderungsschneiderei für mondäne Hochzeitsmode übernehmen wollte. Sie war der Auffassung, dass hier ohnehin sich niemand mehr das Ja-Wort geben würde, allenfalls noch die ergraute Hebamme am Ende der Hauptstraße, deren zahnloser Verehrer keinerlei Mühen scheute, ihr seine Liebe zu beweisen und regelmäßig zur Geisterstunde das ganze Dorf aus dem Schlaf riss, wenn er mal wieder betrunken vor ihrem Fenster heißblütige Gesänge anstimmte.
Kinder suchte man fast vergeblich, man musste schon genauer hinschauen.
Samuel war wirklich leicht zu übersehen, so klein und schmächtig, wie er für seine fünf Jahre noch war. Auch war er sehr still und stets in sich gekehrt. Seine schwarzen Haare hingen ihm immer bis tief ins Gesicht und wenn jemand mit ihm sprach, so musste schon ein leichter Wind wehen, damit dieser das Glück hatte, den verträumten Blick seiner Augen zu erhaschen.
Seine Eltern hatten einen kleinen Bauernhof mit Ziegen und Schweinen.
In letzter Zeit sah Samuel, wie morgens ein jüngerer Mann im Anzug zu ihnen auf den Hof kam.
Stets trug er eine Aktentasche aus feinstem schwarzem Leder bei sich, rückte sich beim Aussteigen aus der Kutsche noch einmal seine Fliege zurecht, was offenbar eine Art Mechanismus auslöste, der ein undefinierbares Lächeln auf sein Gesicht zauberte. Samuel faszinierte das auf eine seltsame Weise und er fragte sich, ob er später auch einmal so eine Fliege tragen würde.
Leider konnte er nie verstehen, was der Mann mit seinem Vater beredete, nur leises Gemurmel drang zu ihm in den Dachstuhl empor.
Immer nachdem der Mann wieder gegangen war, veränderten sich die Stimmen im Haus, nicht mehr so leise wie zuvor, und der Vater schien oft schlecht gelaunt, schrie die Mutter an, beschimpfte das Essen und stritt vehement mit sich selbst.
Eines Tages, als die Familie beim Essen saß, fragte Samuel warum die Schweine überhaupt auf ihrem Hof sind und warum manche immer mit einem Transportwagen abgeholt werden und dafür dann wieder neue ankommen.
Der Vater schmunzelte über seine Frage und nach einem kurzen Moment des Nachdenkens sagte er:
„Kannst du dich noch an das Haus am Eingang des Dorfes erinnern? Inzwischen ist es etwas verfallen und die Fenster sind vernagelt, aber vor zwei Jahren gab es dort ein Motel. Dort sind Menschen angereist, die für eine Weile eine Bleibe suchten. Sie konnten dort schlafen und etwas essen und wenn sie weiter ziehen wollten, dann haben sie das Motel wieder verlassen.
Genau so ein Motel haben wir bei uns, nur ein ganz Besonderes wo nur Schweine einziehen können. Bei uns ist es sogar noch viel besser, weil die Schweine nicht zu Fuß kommen müssen, sondern mit einem Chauffeur gefahren werden, wie bei den ganz reichen Leuten. Und wenn dann mal der Tag kommt, wo sie ihre Reise fortsetzen wollen, dann bringt sie unser Chauffeur sogar noch bis raus vor das Dorf.“
Samuel hatte gespannt zugehört. Am liebsten hätte er jetzt all seinen Freunden erzählt, was für tolle Dinge seine Eltern für die Schweine tun. Leider hatte er ja keine Freunde, aber dennoch fühlte er sich glücklich. Jetzt konnte er sich auch wieder schwach an das Motel am Dorfeingang erinnern, wo immer fröhliche Menschen davor saßen, lustig redeten und etwas tranken und komische Wörter schrien, die er nie verstand. Die Frauen dort hatten immer viel zu wenig an, sie mussten doch schrecklich frieren in der Kälte, dachte sich Samuel.
Mit all dem neuen Wissen und einem gewissen Stolz erfüllt konnte Samuel heute tief und fest schlafen.
Als ein Poltern auf dem Hof ihn am nächsten Morgen weckte, wußte er sofort, was es zu bedeuten hatte. Mit noch verschlafenen Augen sah er durch sein Fenster, wie ein großer Wagen vor dem Stall geöffnet wurde und neue Besucher hinein trampelten. Samuel zog sich geschwind an, schließlich wollte er jedes einzelne Schwein bei ihnen persönlich begrüßen. Aus der Küche stibitzte er sich noch einen Bund Karotten und lief in den Stall.
Ein ausgesprochen kleines Schwein saß zitternd in der Ecke. Samuel versuchte es mit einer Karotte anzulocken, doch es rührte sich nicht. Statt dessen blickte es ihn nur mit seinen kleinen schwarzen Knopfaugen an. „Warum hast du denn solche Angst? Es wird dir hier gut gehen. Schau, das ist für dich.“ Samuel winkte mit der Karotte hin und her und die Knopfaugen folgten der Bewegung.
Schließlich öffnete Samuel die Gittertür und näherte sich dem Schwein leise und behutsam. Es hatte ein schönes, marmoriertes Fell, fast wie bei einem Wildschwein. Samuel tat es leid, dass es solche Angst hatte und setzte sich auf die Knie, damit er nicht so groß war. Als er ihm vorsichtig die Möhre entgegen streckte, bemerkte Samuel, dass es überhaupt nicht mehr auf das Gemüse blickte, sondern ihm direkt in die Augen. So verharrte Samuel eine Weile, die Karotte in der weit ausgestreckten Hand, fast die Schnauze des Tieres berührend. Es hatte schon fast etwas Unheimliches, wie das Tier ihn gebannt fixierte. Schließlich begann das Schwein aber doch an der Karotte zu knabbern, ließ Samuel dabei aber keine Sekunde aus den Augen. „Siehst du, das schmeckt dir, nachher bringe ich dir noch was Gutes, du bist ja ganz dürr.“
Ab jetzt brachte Samuel dem kleinen Schwein immer etwas Besonderes mit, manchmal einen Maiskolben, den er beim Mittagessen heimlich in eine Tüte steckte, oder etwas von dem Obst, was seine Mutter ihm jeden Morgen gab.
Schon bald war die Angst der Schweins völlig verschwunden. Und es begann ihn immer herzlich mit Quieken zu begrüßen. Es schien auch immer traurig zu sein, wenn Samuel wieder ging und begann sogar mit lautem Quieken zu protestieren, wenn Samuel den Stall verließ ohne ihm vorher den Bauch zu kraulen.
Samuel konnte ihm alles erzählen, was ihm auf dem Herzen lag; wenn er mal abends traurig war und nicht einschlafen konnte, so stieg er stets aus dem Fenster, kletterte den Baum hinunter und lief im Schutz der Dunkelheit zu seinem neuen Freund. Das Schwein hatte immer Verständnis für ihn, schaute ihm tief in die Augen und hörte aufmerksam zu, und gelegentlich gab es ihm auch einen Rat, wenn er nicht mehr weiter wusste. Samuel konnte seinem Schwein einfach alles erzählen, er redete über Dinge, die er nie gewagt hätte vor seinen Eltern auszusprechen, – und er wurde verstanden.
So verging einige Zeit, Samuel brachte seinem Schwein täglich allerlei Leckereien, sie diskutierten bis tief in die Nacht, und selbst wenn es mal Streit gab, so war die Versöhnung am nächsten Tag umso schöner.
Der Mann mit der besonderen Fliege kam inzwischen immer öfter auf ihren Hof und Samuel fragte sich, ob die Fliege vielleicht nicht mehr ganz in Ordnung war, denn das Lächeln auf dem Gesicht wurde mit jedem Mal schwächer.
Der Vater war immer schlechter gelaunt, er hörte, wie er bis tief in die Nacht mit sich selbst schimpfte und danach immer fast den ganzen Tag verschlief, und die Mutter wies Samuel an, mehr und mehr die Arbeit seines Vaters zu verrichten.
Samuel machte die schwere Arbeit aber dennoch Spass, denn er wollte, dass die Durchreisenden es bei ihnen schön haben, dass immer für frisches Wasser gesorgt ist, immer etwas zu Essen bereit steht und natürlich auch, dass der Stall jeden Tag sauber gemacht wird.
Er fand es nur traurig, dass in letzter Zeit so viele Bewohner auszogen, immer wieder kam der Chauffeur und holte Bewohner ab.
Samuel kannte den Klang des Wagens schon genau, es war ein alter Plattenwagen, den drei Pferde zogen.
Samuel dachte, dass er sich nicht genug anstrengen würde und die Schweine unzufrieden mit ihrer Unterkunft wären. Jetzt wo es ihm bewusst wurde, merkte er erst, wie still es inzwischen im Stall geworden war, die meisten Parzellen waren leer, Samuel zählte gerade noch fünf Tiere. Immer wieder fragte er sein Lieblingsschwein, ob er irgendwas besser machen könne, ob das Wasser nicht sauber sei oder ob das Getreide verdorben sei, doch das Schwein schwieg.
Der Mann mit Fliege kam wieder. Die Fliege funktionierte heute nicht so gut, der Mund von dem Mann hatte sich in einen geraden Strich verwandelt. Sie musste kaputt sein.
An einem Abend als Samuel erschöpft zu Bett gehen wollte, bat ihn die Mutter, doch noch kurz in der Wohnstube zu bleiben.
“Schätzchen, ich habe heute mit deinem Schwein gesprochen.”
“Du hast mit ihm gesprochen?”
“Ich dachte, es würde nur mit mir sprechen”
“Aber es hat wirklich mit mir gesprochen und gesagt, dass es jetzt ausziehen will.”
Samuel bedrückte es sehr, was seine Mutter ihm gesagt hat, denn er dachte, dass er seinem Schwein immer alles gegeben hatte, was es braucht. Auch an diesem Abend kletterte er, trotz strömenden Regens wieder aus dem Fenster.
Als er nach einigen Stunden wieder zurückkam, schlich er leise durch die dunkle Wohnung und ließ langsam die Tür zum Schlafzimmer seiner Eltern aufgleiten. Dort stand er nun, regungslos im Türrahmen und betrachtete seine schlafenden Eltern. Die Mutter erwachte auf einmal und sah die Silhouette in der Tür. Mit einem Schrecken setzte sie sich im Bett auf und betrachtete die von Regen durchweichte Gestalt.
„Du hast mich angelogen.“ sagte Samuel leise.
„Was meinst du? Ich würde dich niemals anlügen. Warum bist du überhaupt so nass?“
„Ich habe mit ihm geredet und es will gar nicht ausziehen.“
„Schätzchen, du bist sehr müde. Tiere können nicht reden. Und es wird uns allen viel besser gehen, wenn dein Schwein jetzt auszieht, du wirst schon sehen.“
Nach einem Moment des Schweigens verschwand Samuel wieder aus der Tür und die Mutter hörte nur noch seine Schritte, als er wieder hinauf in den Dachstuhl ging.
Samuel sprach ab diesem Moment kein Wort mehr, er merkte wie überflüssig die Worte für ihn geworden waren. Wenn jemand etwas von ihm wollte, so reichte meist auch ein Nicken oder Kopfschütteln; wenn sein Vater ein wichtiges Anliegen hatte, begleitete er seine Gesten mit einem leisen Laut – fast einem zarten Grunzen gleich. Einmal kurz und hoch für „ja“ und zweimal tief für „nein“.
Vielleicht bemerkte der Vater keine Veränderung, jedenfalls saß er wie jeden Tag still in seinem Ohrensessel.
Seine Mutter war zuweilen etwas besorgt, weil Samuel so verwegen aussah und zwang ihn dazu, einmal in der Woche seine Haare zu waschen, wobei Samuel mit lautem Quieken protestierte.
Schließlich wurde ihr aber auch diese wöchentliche Rangelei in der Badewanne zu viel, nicht zuletzt, weil sie inzwischen einige Bisswunden an ihren Fingern davon tragen musste.
Samuel lag nachts oft wach und konnte nicht schlafen, so kletterte er aus dem Fenster und schlich sich im Schutz der Dunkelheit in den Stall.
Der Vater hatte ihm gesagt, dass er nicht genug Geld für die Werbeaushänge für sein Hotel hätte und deshalb keine neuen Besucher einziehen würden.
Unter Tränen merkte Samuel, dass der Stall von seinem Freund leer war. Überhaupt waren schon viele Nachbarschweine ebenfalls ausgezogen.
Das Stroh war zwar stachelig, aber doch bequem, man musste nur wissen, wie man sich am Besten in das Heu einkuschelt, damit die Halme einen nicht stechen. Einfach vorsichtig in einer drehenden Bewegung sich hineinfallen lassen und dann noch ein wenig auf der Stelle weiter drehen, so legen sich alle spitzen Halme zur Seite, so wie es auch die Großkatzen in der Savanne tun, und schon steht der Heuballen dem Bett im Haus in nichts mehr nach. Im Gegenteil, hier roch es auch viel besser als im Haus. Hier fühlte sich Samuel geborgen und verbrachte lange Zeit im Halbschlaf.
Es gab auch immer Wasser in dem Trog, wenn man einmal Durst hatte.
Selbst das Essen, was hauptsächlich aus Gemüseabfällen bestand, konnte eigentlich nur gesund sein, so dachte Samuel. Am frühen morgen ging er aber wieder zurück auf seinen Dachboden.
Der Mann mit Fliege kam wieder. Diesmal funktionierte die Fliege wieder, aber ganz anders als sonst und ließ einen energischen, abfälligen Ausdruck auf seinem Gesicht erscheinen.
Samuel verstand sofort, denn es war eine andere Fliege als sonst. Früher war sie blau mit weißen Punkten, jetzt war sie ganz schwarz und ganz ohne Punkte.
Abends hörte er wieder Streit durch das Haus schallen, dadurch konnte er nicht einschlafen, saß den ganzen Tag bewegungslos auf dem Bett und versuchte die Ameisen zu zählen, die eine Straße von der Küche des Hauses, quer durch seinen Dachboden gebildet hatten, um schließlich durchs Fenster nach draußen zu verschwinden. Manche hatten sogar Flügel und konnten etwas fliegen.
Erschöpft von dem Zählen ging zugleich auch wieder die Sonne unter und der letzte goldene Sonnenstrahl wanderte ihm über sein Gesicht. Von draußen kam der Strahl herein und da wollte Samuel auch hin, so kletterte er wieder den Baum herunter, und schlich sich in den Stall, wo er sich in der Wohnung seines Freundes in das Stroh einrollte. Endlich konnte er ruhig einschlafen.
Plötzlich wurde Samuel vom Rumpeln eines Wagens geweckt, der am Stall vor fuhr.
Er wusste nicht, wieviel Zeit vergangen war… ein paar Stunden? Tage? Er kannte den Klang, es war der Wagen, den er so viele Jahre immer gehört hatte. Er hörte wie zwei oder drei Männer ausstiegen. Sie schienen eine fremde Sprache zu sprechen, jedenfalls konnte Samuel sie nicht verstehen. Die Scheunentür zum dunklen Stall öffnete sich weit. Samuel hob den Kopf aus der Tränke und blickte fasziniert in das gleißende Licht, dass ihm entgegen strahlte. Seine Augen tränten, während er das Lichterspiel der sich nähernden Schatten beobachtete.
Sonst war Samuel immer matt und betrübt, aber heute nicht, heute war alles anders.
Noch einmal wälzte er sich voller Vorfreude im kühlen Morast. Schauer der Erregung durchschossen seinen kleinen Körper, und an seinem ganzen Leib stellten sich seine feinen dunklen Härchen auf.
Heute war der Tag, den er sich aus tiefstem Inneren herbeigesehnt hatte.
Ein begeistertes Quieken kam über seine Lippen.
Heute würde er ausziehen.
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