Von Michael Wiedorn
Der Orkan drückt. Er drückt. Jaulen und Heulen pressen gegen die Glasscheibe des Hochhauses. Der Turm von Babel griff hoch in die Wolken. Eine ständig wachsende, unsichtbare Kraft kämpft gegen das noch standhaltende Glas. Ich sitze bequem und sicher auf einem Sessel im obersten Stockwerk eines Wolkenkratzers bei einem Bierchen. Hier fühle ich, dass mir nichts geschehen kann. Das Innere eines modernen Hauses ist eine gegen die Unbilden der Außenwelt bergende Höhle. Der zivilisierte Mensch ist ein am Fläschchen nuckelndes Baby. Durch die Fensterscheibe blicke ich auf eine zunehmend unruhigere, dunkelgraue bis schwarze Wolkenwand und ein zum Untergang geweihtes Häusermeer. Verhärtet sich die Wolkenwand zu mörderischem Stein? Das Gesicht der Natur versinkt in tiefe Finsternis und wendet sich von allem Menschlichen ab. Ich bin ein neugieriger und fröhlicher Zuschauer in meiner gemütlichen Wärme. Nur eine dünne Scheibe trennt mich vom immer heftiger werdenden Chaos. Vor Müdigkeit fallen mir immer wieder die Augen zu. Die vergangene Woche war voll Geschäftstermine. Noch ragt die Stadt selbstsicher und standhaft in die Höhe. Wir weigern uns alle einzusehen, dass Städte auf einen Schlag von der Landkarte verschwinden. Das Dunkelgrau am Himmel kräuselt sich und quellt und treibt. Die Ziegel der Häuser und der Stahl und das Glas der Bürohäuser leuchten verhängnisvoll und bösartig im bleifarbenen Licht.
Auf der Glasfläche breitet sich ein Spinnennetz von feinen Rissen aus. Die Spinne wächst und breitet ihre Beinchen aus. Der Krebs bildet im Körper Metastasen. Dann ein ohrenbetäubendes Krachen. Aufgeschreckt reißt sich mein Leib aus dem Sessel und eine unsichtbare Kraft schmeißt mich nach hinten. Das Außen jagt in die Geborgenheit eines gepflegten Restaurants. Die Flaschen und Gläser der Theke klirren und klingeln wie verwirrte Glöckchen in einer arktischen Eiswüste. Ich bin jetzt in einer weit entfernten Fremde. Ich schreie. Fast zerreißen meine Stimmbänder. Unzählige, winzige, die Nerven durchschneidende Stiche übersähen mein Gesicht. Alles tobt und wird bis ins Innerste zertrümmert. Meine Fresse zerfließt in einer dicken Flüssigkeit. Das Nass ist dunkel. Ich verwandle mich. Alles auf der Erdkugel weht und flieht davon. Ich bin kein Mensch mehr. Die Natur hat sich von allem Menschlichen abgewandt. Menschen treiben Geldgeschäfte, sitzen in Bars und halten Termine ein. Ich bin ein vor Angst und Schmerz zuckendes Fleisch ohne Gesicht und Namen. Bei meinem entmenschten Anblick würden die Anderen Reißaus nehmen. Alles Feste verliert seinen Standort.
Hinter der Theke lehnt ein blutverklebter Hinterkopf an der zersplitterten Spiegelfläche. Sind seine Glieder und der Rumpf zerstückelt? Die Flaschen und Gläser. Die Augen des Wesens sind schreckstarr und weit aufgerissen. Dicke, rote Bahnen ziehen über sein Gesicht. Die Unruhe treibt weiter ins Innere. Das schwarz versteinerte Gesicht der Natur öffnet sich im purpurnen Hass. Der reglose Körper wurde an die zersplitterte Spiegelwand genagelt. Die Arme sind empfangsbereit ausgebreitet. Ich bin tot. Wer blickt auf mich?
© 2021 Michael Wiedorn
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