Eine neue Zeit bricht an

Von Michael Wiedorn

Es ist ein stickig heißer Tag im Mai. Das Straßenpflaster dampft fast. Es ist ungewöhnlich heiß für einen Frühlingstag. Die Sonne brennt. Im Sommer wird das Gras hässlich gelb und so trocken sein, dass es schon bei einem leichtfertig hingeworfenem Zigarettenstummel lichterloh zu brennen anfangen wird. Die Welt wird immer wärmer, die Sommer immer heißer. Gewaltige Feuerwände werden alles Fruchtbare niederwalzen. Der mordende Strahl der Sonne wird auf in trockene Wüsten verwandelte Äcker knallen. Ich sitze in Parkanlagen. Der blau knisternde Himmel. Grün leuchten die Bäume und Sträucher. In der Natur findet der Mensch seinen Frieden. Hell leuchten die Steinquader des Kriegerdenkmals. Der nackte Krieger kniet, den Kopf nach vorne gebeugt, die kräftigen Steinhände an den angespannten Armen zu Fäusten geballt. Er ist unterworfen und wartet auf die Stunde, in der er sich aufrecken darf. Die Natur ist gütig und ernährt und beschützt den Menschen. Es ist windstill. Ein Blatt Papier würde reglos liegen bleiben. Blau und ruhig ist der Himmel. Blau und ruhig wie die Augen eines kleinen Kindes, das fröhlich einem in die Lüfte davonfliegendem Luftballon nachblickt. Ich betrachte die Ruhe des Wachsens und Gedeihens. Die Tage des Perms sind warm und fruchtbar. In den feuchten Farnwäldern blüht und wuchert das Leben. Echsen, bunte Vögel, Libellen.
Vom Süden zieht eine schwarze Wolkenmauer auf. Eine Gewitterfront. Die Lenzheiterkeit über mir hört abrupt an der Finsternis der aufziehenden Wand auf. Hier verläuft die Front. Durch die kohlenfarbene Decke schimmert ganz leicht ein gelbes Licht. Eine bösartig lauernde Kraft, die zur Zerstörung bereit ist. Stoßartig weht gelegentlich ein Windstoß durch die bis jetzt den ganzen Tag lang reglosen Sträucher und Bäume. Stoßend und fremd läuft der Hauch, als wäre er vom Feind beseelt. Die taub dumpfe Masse kämpft sich wie eine siegreiche Armee vorwärts und treibt die Heiterkeit des Sommers vor sich her wie hilfloses Jagdwild. Das Blau lässt sich kampflos zurückdrängen. Die einzelnen Böen verdichten sich zu einem ständigen, anwachsenden Wind. Ich befinde mich inmitten eines sich rasch entwickelnden Orkans. Die Welt wird sich bald grundlegend verändern. Ich darf hier nicht bleiben. Die Parkanlagen und die Straßen haben sich mit rasender Geschwindigkeit verwandelt und beabsichtigen mich dem Chaos auszuliefern. Blut stößt aus dem zerschmetterten Menschenfleisch. Das gespenstische Wehen lässt die Pflanzen sich winden und drehen wie sich vor Schmerz zerreißende Irre. Der Kehle wird von Geisterhänden die Luft abgewürgt. Je mehr das Opfer sich aus dem Schraubstock zu winden versucht, desto fester drücken die eisenharten Hände zu. Eine rohe, böse Kraft schlägt und presst unsichtbar und angreifbar auf alles Leben. Es ist jetzt Nacht – eine fiebrig umtriebige Nacht. Eine heillose Lichtlosigkeit hat den Nachmittag verschlungen. Eiterndes Gelb glüht durch die verkohlten Wolken. Ich wohne gleich in der Nähe und eile nach Hause. Die primitiven Gesichtszüge des versteinerten Kriegers auf dem Denkmalspodest erwachen aus ihrer Erstarrung. Er scheint zu horchen. Es dröhnt dumpf. Staub wirbelt auf. Die Augen brennen mir. Die Autos eilen zu ihren Zielen, bevor der Straßenverkehr unter der Wucht des Unwetters zusammenbrechen wird.
Eine Bierdose scheppert laut über das Straßenpflaster. Das Leuchten der Straßenlaternen macht sich lächerlich im Kampf gegen die uns alle verschlingende Düsternis.
In meiner Wohnung angekommen, höre ich den Orkan verzweifelt an meinen Fenstern rütteln. Die Scheiben hängen nur sehr locker in den alten, schon morschen Rahmen. Der Baum vor dem Wohnzimmerfenster wird von einer luftigen Pranke hin und her gerissen.
In den Wäldern schwanken die Kronen und Wipfel uralter Bäume, bis sie vom Sturm gefällt werden. Über Jahrhunderte langsam Gewachsenes bricht in wenigen Augenblicken zusammen. Die Welt verändert sich. Die Wälder verrecken und die Wüsten breiten sich aus. Bäume, die Schutz boten, verwandeln sich in tödliche Waffen. Der Wald war undurchdringlich. In seinem tiefen, geheimnisvollen Dickicht verbargen sich Tiere. Die Wildnis ist jetzt eine Steppe, den Weiten des Himmels hilflos ausgeliefert. Man hat freie Bahn Autobahnen und Fabriken zu bauen. Endlich kann in die Infrastruktur investiert werden. Die hasserfüllte Farblosigkeit der Luft prügelt auf den Baum. Die Gewalt dreht sich und dreht den Baum um seine Achse. Im fahlen Gewitterlicht erinnert das Gewächs an einen verängstigten Häftling, dessen Rumpf und Glieder von Schergen hochgerissen und niedergeschmettert und über den Betonboden gezerrt werden. Beim Betreten meiner Wohnung schalte ich das elektrische Licht nicht an und stehe hellwach im dunklen Flur. Halte ich mich in wildfremden, von ihren Bewohnern fluchtartig verlassenen Zimmern auf? Eine dem Verfall preisgegebene Wohnung inmitten eines Kriegsgebietes. Das klamme Gelb in der versteinerten Himmelsdecke taucht die Grasfläche vor meinem Fenster in ein gespenstisches Licht. Mehrere, gleichzeitige Blitze zerfetzen das Firmament. Die Häuser und Bäume draußen und die Schränke und Tische, Tassen und Gläser in der Wohnung stehen im Bruchteil einer Sekunde im bleifarbenen Blitzlicht. Kisten, Uhren, Bücher zeigen einen Blitz lang ihre scharfen Ecken und Kanten, bevor sie für immer und ewig auseinander bersten und in die Leere verschwinden werden.
Der Himmel bricht auseinander. Die Erdkruste bricht auf und entlässt das eingekerkerte Feuer. Der Sturm tobt und alles flieht und fliegt davon. Die Tage des Perms sind warm und fruchtbar. In den warmen Farnwäldern blüht und wuchert das Leben. Echsen, bunte Vögel, Libellen. Steinschläge werden vom Himmel herab auf die Erde treffen. Vor dem Haus reißt und zerrt und rast der Wahnsinnige. In diesem Jahr ist der Winter ausgefallen. Warum soll es im Sommer nicht schneien? Alle 20 000 Jahre bricht eine neue Eiszeit aus. 150 000 Jahre Eiszeit, dann wieder 20 000 Jahre Warmzeit. Irgendwann beginnt die Temperatur in den Keller zu stürzen und hört nicht auf zu fallen. Die Welt verändert sich. Passanten versuchen sich vergeblich vorwärts zu bewegen. Der Wind schmeißt sich ihnen entgegen und würde sie wie hilflose Käfer auf den Rücken werfen, wenn sie nicht ihre gesamte Körperkraft aufbieten würden, um sich entgegen zu stemmen. Die Opfer versuchen an Mauern Halt zu finden. Sind sie betrunken? Betrunken sind Luft und Himmel.
Die ewigen Kreisläufe der Natur! Die Geborgenheit und Schlichtheit der Natur! Der Mensch ist gut und echt im Einklang der Schöpfung!
Sämtliche Glasscheiben lösen sich aus dem Kitt und stürzen klirrend auf die Vorüberlaufenden. Unzählige Scherben treiben in das schmerzende Fleisch und lassen aus den Verletzten Ströme aus Blut und Schreien entfliehen.
Das Glas meiner Fenster jagt aus den Rahmen und stürzt klirrend auf das Pflaster des Hofes. Ein anwachsendes Pochen und Stoßen und Schlagen dröhnt gegen die Hausmauer. Mein ganzes Eigentum treibt durch die Risse der Mauern und die leeren Fensterrahmen ins Freie. Ziegeln lösen sich aus der Mauer. Eisstürme löschen alles aus.

© 2021 Michael Wiedorn
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