Kinderfreuden

Von Lena Kelm

Der Sommer der kasachischen Steppe war meist drei bis vier Monate heiß. Die Sonne heiß wie ein Grill, grünes Gras eine Rarität, die es nur kurze Zeit gab. Aber selbst die trockene Erde war uns Kindern weicher als die befahrene, steinige Straße im Ort. Die kasachischen Kinder waren es gewohnt, barfuß zu laufen – wir Kinder der Russlanddeutschen passten uns ihnen an. Eigentlich mussten wir das nicht tun, aber wir waren Teil von ihnen, wir gehörten dazu. Wir lebten friedlich miteinander, das Schicksal der Minderheiten teilend. Und wir teilten auch: Das Essen.
Ein Gaumenschmaus war das Stückchen Pferde- oder Rindfleisch, das wir von den kasachischen, meist älteren Frauen bekamen. Diese trugen ihre langen Kleider und Kopftücher. Stundenlang rührten sie mit verbogenen Aluminiumkellen in großen schwarzen Kesseln über den offenen Feuerstellen vor ihren Lehmhütten. Darin köchelte das Fleisch. In das Wasser kamen nur Salz, Pfeffer und Zwiebel, aber die Brühe roch und schmeckte köstlich. Das Fleisch stammte vom Vieh, das mit seinen Herren zusammen hauste oder nebenan. Der Geruch des Heus, des Mistes, der kräftigen Fleischbrühe, gemischt mit Staub, lag ständig in der Luft. Das war die Luft meiner Kindheit. Ich sehe die schmutzigen braunen Gesichter, die dünnen, langbeinigen, mit Armen fuchtelnden Körper meiner kasachischen Spielkameraden vor mir. Sie hatten schwarze, durch den ewigen Staub grau melierte Haare und Schlitzaugen mit schwarzen „Knöpfen“ darin, die kaum zur Geltung kamen. Bekleidet waren sie meist mit einer schwarzen, knielangen Baumwollhose. Das war bequem, denn sie waren stets in Bewegung: hopsten, sprangen, liefen, holten ein, ritten auf dem Rücken eines anderen, schrien, lachten ausgelassen, nie böse und gemein. Wir spielten fast nur gemeinsame Spiele: Versteck, Wettlauf, Völkerball. Ab und zu spielten wir ruhigere Spiele mit Knochen oder Glasscherben. Seilhüpfen – die Mädchen, Fußball – die Jungs. Eine kleine Ewigkeit ist es her. Ich lebe schon lange in Berlin. Die schönen Erinnerungen sind mir geblieben.

Auszug aus: Lena Kelm „Im Prinzip gibt es alles“. Erzählungen.

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