Von Johannes Morschl
An einem Sonntagnachmittag im August stand der alte Dichter Fredi Freitag auf dem flachen Dach des vierstöckigen Hauses in Berlin-Reinickendorf, wo er in einer heruntergekommenen kleinen Wohnung im 1. OG mehr hauste als wohnte. In seinem grauen zerfurchten Gesicht flackerte ein irrer Blick. Er breitete seine langen Arme wie Flügel aus und machte mit seinen langen dünnen Beinen ein paar trippelnde Schritte in Richtung Dachrand, doch kurz davor stoppte er. „Nein, noch nicht heute aus dem Leben fliegen,“ sagte er sich, „obwohl warum nicht heute? Morgen würde es auch nicht besser sein, eher schlimmer. Der Wetterbericht hat für morgen Gewitter und Hagelschauer mit eigroßen Hagelkörnern ankündigt. Da könnte ich, wenn ich auf dem Dach stehe, von Hagelkörnern erschlagen werden, und das wäre dann kein selbstbestimmter Tod, kein Freitod, sondern einer dieser berüchtigten Schicksalsschläge aus heiterem Himmel, wobei heiterer Himmel nicht stimmen würde, denn der wäre morgen alles andere als heiter. Allerdings würde so ein düsterer Gewitterhimmel viel besser zu meiner Stimmung passen. Der heutige Himmel ist mir viel zu heiter angesichts des Geschehens auf dieser Welt, in die ich erbarmungslos hineingeworfen wurde. Aber durch eigroße Hagelkörner, denen ich am Dach hilflos ausgeliefert wäre, möchte ich auf keinen Fall sterben, dann lieber heute trotz des unpassend heiteren Himmels. Was du heute kannst besorgen, das verschiebe nicht auf morgen, hat schon meine Mutter gesagt. Bei Vater hat dieser Spruch funktioniert, er erledigte immer untertänigst sofort alles, was ihm von Mutter aufgetragen wurde.“
Da hörte Fredi wieder das chaotische Summen und Rauschen des Weltalls, das ihn schon seit Wochen plagte. Seine Mitmenschen schien dieses Summen und Rauschen nicht zu stören, ja sie nahmen es wahrscheinlich gar nicht wahr. Diese kosmischen Geräusche machten ihn wahnsinnig, er sehnte sich nach Stille, nach ewiger Ruhe. „Nichts wie raus aus diesem Weltall!“, dachte er. „Es ist besser, gleich jetzt für immer weg zu fliegen, für immer aus dieser Welt auszusteigen, zumindest als jenes fühlende, denkende, verletzliche und sterbliche Menschentier, das man ist. Ganz aussteigen kann man ja leider nicht. Es bleiben die sterblichen Überreste, die in einem Sarg vergammeln oder im Falle einer Feuerbestattung als Asche in einer Urne zu Staub zerfallen. Aber damit muss man leben, wenn man für immer davonfliegen will.“ Er hatte auch daran gedacht, sich die Kugel zu geben, da dies viel schneller gehen würde, als vom Dach runterzuspringen, wo man zuerst aufs Dach steigen musste und dann vielleicht zwei, drei Sekunden lang hinunterflog. Jedoch verwarf er diese Idee wieder, denn dann hätte er am Schwarzmarkt einen Revolver oder eine Pistole kaufen müssen. Er hätte aber nicht gewusst, wie er an einen illegalen Waffenhändler herankommen könnte, und außerdem hatte er zu wenig Geld, er hätte für den Kauf einer Waffe sparen müssen, doch wie sollte er sparen, wenn er mehr oder minder von der Hand im Mund lebte? Nein, das wäre ihm viel zu umständlich gewesen, dann lieber vom Dach runterspringen. Aber bestünde dabei nicht die Gefahr, dass er auf ein zufällig unten vorbeigehendes Menschentier fallen könnte, auf eine dieser bemitleidenswerten Kreaturen, die blindwütig am Leben festhielten, wie beschissen es auch immer war, und in ihrer privaten Hölle am liebsten unsterblich sein würden? Nein, das wollte und konnte er niemandem antun. Er war ja schließlich kein Menschenfeind. Es ging ihm einzig und allein um sein eigenes Verschwinden für immer.
Er hatte auch schon längst sein Testament verfasst, in dem er als letzten Wunsch kundtat, man möge sich um seinen Schatten kümmern, falls ihn dieser überleben sollte, was zwar äußerst unwahrscheinlich war. Sollte dies jedoch gegen alle Naturgesetze dennoch der Fall sein, so könnte man seinem Schatten vielleicht eine Funktion in einem Schattenkabinett geben, zum Beispiel als Minister für Schattengeschlechtsverkehrswesen. Dann müsste er nicht so ein tristes Schattendasein wie sein ehemaliger Besitzer führen. An dieses Testament musste Fredi jetzt denken. Er war froh, dass er es geschrieben hat, denn ohne das Testament wäre etwas unerledigt geblieben, und das hätte seiner Mutter gar nicht gefallen, denn sie hatte es gehasst, wenn etwas unerledigt blieb. „Gott hab sie selig!“, dachte er, obwohl er Atheist war und seine Mutter auch nicht viel mit Gott am Hut gehabt hat, und sein Vater erst recht nicht, der war ein alter Freidenker, der hat sich im Denken die Freiheit genommen, die er bei Mutter nicht hatte. Fredi machte einen Schritt nach vorn bis ganz an den Dachrand, die langen Arme noch immer wie Flügel ausgebreitet, und blickte in die Tiefe, ob da unten jemand stand oder herumlief, denn dann würde er warten, bis es unten wieder frei war. Gerade als es ihm günstig zu sein schien, vom Dachrand abzuheben, trat unten eine Frau mit rotem Wuschelkopf auf und blieb genau in dem Bereich stehen, wo sein Körper vermutlich aufprallen würde. „Die sieht ja aus wie die Walli! Das kann nur die Walli sein!“, durchfuhr es ihn, wobei gleichzeitig das nervenzerrüttende Summen und Rauschen des Weltalls schlagartig verstummte, was ihn erleichtert aufatmen ließ. Wallis Erscheinen brachte ihn völlig aus seinem suizidalen Konzept. Er verspürte eine Aufwallung allzu menschlicher Gefühle, und das ließ ihn wieder an die Welt andocken, die ihm – und das konnte kein Zufall sein – just in dieser Situation, in der er unmittelbar vor dem finalen Abflug stand, tief unter seiner Nase Walli hingezaubert hatte. Ja, das war eindeutig die hinterhältigste Verlockung, die sich die Welt hatte ausdenken können, um ihn am Abflug zu hindern.
Walli, die eigentlich Walburga hieß, war eine frühere Geliebte von ihm aus seiner Studentenzeit, als er an der Freien Universität Berlin Philosophie studierte, wobei er sich weit mehr revolutionären Umtrieben als dem Studium hingegeben hatte. Sie stammte aus einer Kleinstadt in Bayern, wo ihr Vater, der dort ein paar Häuser und Grundstücke besaß, Parteichef der dortigen CSU war. Ihre Mutter litt an Depressionen und zog sich manchmal für einige Wochen in eine psychiatrische Klinik zurück, was Walli als Flucht vor dem Eheleben interpretierte. Walli war ebenfalls an der Freien Universität immatrikuliert, Hauptfach Ethnologie. Sie hatte aber keine Zeit für die Uni, da sie lieber männliche Studenten studierte, die so wie sie zur APO, zur Außerparlamentarischen Opposition gehörten. Sie studierte die Studenten primär im Bett, wobei sie immer zwei, drei Studenten parallel studierte, an dem einen Tag den einen und am nächsten Tag den anderen, oder tagsüber den einen und nachts den anderen. Sie hatte sich eigentlich nur aus Not auf Fredi eingelassen, weil sie damals, als sie sich auf einer Fete kennenlernten, nur einen einzigen Studenten als Studienobjekt zur Hand hatte, was ihr eindeutig zu wenig war. Mit zwei Studienobjekten fühlte sie sich einigermaßen ausgelastet, optimal für sie waren aber drei. Da sie keinen der Studenten länger als ein bis zwei Monate studierte, kam eine beträchtliche Summe von Einzelstudien zusammen. Leider hat sie die Ergebnisse ihrer Studien nie veröffentlicht, was Fredi ausgesprochen schade fand. So eine Veröffentlichung wäre damals ein Renner gewesen. Heute jedoch wäre sie nur noch für ein überschaubares Publikum älteren Semesters interessant, das sich an der Rückschau auf die gute alte Zeit ergötzen möchte, als man noch wüst herumgevögelt hat, bis dann die in den 70er-Jahren aufkommende Frauenbewegung diesem Treiben ein Ende setzte. In Folge der Frauenbewegung verwandelten sich viele der linken Studenten in Müsli essende und Pullover strickende Softies, die beim gemeinsamen Stricken in Männergruppen über Themen wie den Untergang des Mannes diskutierten. Allerdings verwandelte sich später so mancher dieser Softies wieder in jenen Mann zurück, dessen Untergang er allzu optimistisch vorausgesagt hatte.
Fredi kratzte sich am Kopf. Er stellte sich dieselbe Frage, die der russische Schriftsteller und Revolutionär Nikolai Gawrilowitsch Tschernyschewski zum Titel eines 1863 erschienenen, im Gefängnis geschriebenen Romans gemacht hatte, und welche einer seiner Verehrer, der russische Revolutionär Wladimir Iljitsch Uljanow alias Lenin als Titel für eine 1902 erschienene politische Streitschrift übernommen hatte, nämlich Was tun?. Der Berliner würde direkter fragen: „Wat’n nu, fliegste oda fliegste nich?“ In Fredis Kopf leuchtete folgende Antwort auf: „Wegen des unerwarteten Auftauchens von Walli muss der für heute geplante finale Abflug storniert und auf unbestimmte Zeit verschroben – Pardon – verschoben werden.“ Dann stieg er vom Dach und flitzte das Treppenhaus hinunter, um Walli noch auf der Straße anzutreffen, ehe sie wieder im Dickicht der Stadt verschwunden war.
© 2021 Johannes Morschl
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(Anfang der Erzählung Kurz vor dem Abflug, 2016)