»Siebenreich – Die letzten Scherben« Kapitel 3. Nach Königstein

Von Michael Kothe

1.

Die Temperatur war herbstlich lau. Schwacher Wind trug von irgendwoher den Duft nach Heu. Sie folgten dem Weg nach Nordosten. Es war ein besserer Trampelpfad, ausgetreten von Bauern und Händlern zog sich eine Spur verdichteter Erde durch bräunlich-grünes Steppengras. Wenige Schritte vor dem Tor hatte er sich dreigeteilt, die beiden anderen Wege führten links und rechts die Mauer entlang und verloren sich grob in Richtung Nordwesten und Südosten. Julia wunderte sich über die eingeschlagene Richtung, hatte Mike doch behauptet, er wolle nach Süden. Sie sagte aber nichts. Den letzten Menschen waren sie auf halber Sichtweite zum Dorf begegnet.

»Was zwinkerst du mir eigentlich dauernd zu?« versuchte sie, ein Gespräch zu beginnen. Das Schweigen war ihr unangenehm, und endlich hatte sie einen Ansatzpunkt gefunden.
»Ich zwinkere nicht. Aber wenn ich die Augen zukneife, kann ich schärfer sehen. Bei einer meiner ersten Rangeleien mit einem Goblin habe ich meine Brille eingebüßt.«
Als sie ihn mit offenem Mund ansah, lachte er.
»Den Verlust habe ich verschmerzt. Es gibt hier wenig zu lesen. Außerdem ist meine Sehfähigkeit hier besser geworden. Das muss an der Magie liegen.«
»Magie? Willst du mich auf den Arm nehmen?«
»Gewiss nicht! Die Natur ist voll davon. Man muss sie nur erkennen und zu nutzen verstehen. Aber nun lass mal, wir sind da.«
Seit einiger Zeit hielt er den Blick gesenkt, hatte fast nur noch in das Gelände unmittelbar rechts des Pfades geschaut. Sie lief in ihn hinein, so abrupt blieb er nun stehen.
»Am Wasser? Ich seh´s nicht.«
Er schüttelte den Kopf und deutete auf eine kleine Pyramide aus vier oder fünf flachen, runden Steinen. Ohne ihn hätte sie sie übersehen. Er trat wenige Schritte neben den Weg, dann zog er den Tornister vom Rücken, kniete sich hin und begann mit den Händen in der losen Erde zu scharren.
»Werkzeug lohnt nicht«, erklärte er, als er ihren fragenden Blick bemerkte, sagte aber nicht, was er ausgraben wollte.
Das war ohnehin nur von einer dünnen Schicht bedeckt, und nicht einmal vollständig, wie sie nun bemerkte. Es sah aus wie eine hölzerne Trage, nur dass sie dreieckig war, gefertigt aus Birkenstämmen und Leder. Über die Last spannte sich grauer Stoff.
»Mein Schlitten. Für dich ist er leider nicht stabil genug. Ich hoffe, du bist gut zu Fuß.«
Er richtete sich auf, ging bis zum Weg zurück und verwischte mit einem herumliegenden toten Zweig die Spuren bis zu ihrem Standort. Die Steine hatte er in verschiedene Richtungen zwischen die Büsche geschleudert. Er legte den Tornister auf die Trage, wickelte sich den Riemen ums Handgelenk und richtete sich auf.
»Da lang.«
Mit der freien Hand zeigte er querfeldein in grob südliche Richtung, in der sie Wald ausmachte.
»Ich hatte dir ja einen Platz zum Waschen versprochen. Den musst du dir jetzt erarbeiten.«
Damit zerstreute er endgültig ihre Befürchtung, diesen und vielleicht auch die nächsten Tage verschwitzt und mit juckender Haut zubringen zu müssen. Von einem Bach hatte er gesprochen, sie freute sich darauf, und die eine Meile würde sie noch aushalten.

»Gibt es denn hier keinen Weg zum nächsten Dorf? Bei unserem Aufbruch habe ich mindestens zwei gesehen. Einer ging nach Süden, wo du hinwillst.«
»Klar gibt es Wege, aber die meisten Dörfer in Richtung Königstein sind von Räuberbanden besetzt, und ich habe keine Lust, mich in jedem Weiler mit fünfzehn bis zwanzig dieser Galgenvögel anzulegen. Das ist manchmal gefährlicher als ein Kampf mit Orks. Vor allem bringt ein Angriff fast immer die Dorfbewohner in Gefahr. Die werden sozusagen in Geiselhaft gehalten, aber bis auf Diebstahl und Vergewaltigung passiert ihnen recht wenig.«
»Raub und Vergewaltigung sind für dich wenig?« Julia wurde heftig. »Denkst du gar nicht an die Opfer, an ihre Schmach und die Peinlichkeit?«
»Erstens habe ich es so nicht gesagt, und zweitens würde ich es nicht peinlich nennen«, verteidigte er seine Rede, »wenn eine Frau vergewaltigt wird. Es ist aber immer noch besser, als erschlagen zu werden, nur, weil einen einzelner tapferer Retter erpressbar ist. Wir bringen jede Stunde einen Dorfbewohner um, wenn du dich nicht stellst. oder Für jeden von uns sterben drei von denen. So läuft das.«
»Und die Soldaten des Königs? Reguläre Truppen, Stadtwachen?«
Sie redete immer hastiger, lauter. Schließlich blieb sie stehen.
Er zog an ihr vorbei und zwang sie so weiterzugehen.
»Die Soldaten sind am Nordwall gebunden, und Stadtwachen – aber es gibt bis Königstein ohnehin keine Städte – trauen sich nicht aus ihren Mauern heraus. Zumindest nicht, solange sie nicht selbst angegriffen werden.« Mike zupfte nachdenklich an seinem Kinnbart. »Und sollte irgendwann einmal der Krieg vorüber sein, dann werden die Dörfer durch die heimkehrenden Truppen von diesem Gesindel gesäubert. Bis dahin müssen wir uns in dieser Gegend querfeldein durchschlagen.«
Er zuckte die Schultern, und als Julia nichts erwiderte, fasste er die Leine seines Schlittens ein Stück kürzer,

»Erzähl mal«, knüpfte sie ein paar hundert Meter weiter an das Gespräch vom Vorabend an, »wie bist du hierhergekommen?«
»Eine längere Geschichte«, entgegnete er, »es war ein Betriebsausflug. Von Sonthofen aus.«
Auffordernd nickte sie ihm zu. Die wellige Landschaft bot wenig Sehenswertes, und so hatten sie Unterhaltung für die nächste Viertelstunde.
»Zum Ausflug war ich mit Kollegen und Ehemaligen aufgebrochen. Eine Wanderung im Allgäu, kein Klettern, kein Kraxeln. Nach einem Frühstück auf einer Alm, die Verpflegung hatten wir in unseren Rucksäcken dabei, hatte sich die Gruppe auseinandergezogen. Ich hatte mich mit ein paar Kollegen und ihren Ehefrauen an die Spitze gesetzt. Obwohl vorher schon die nächste Wiese durchgeschimmert hatte, erwies sich ein Wäldchen plötzlich als unendlich. Da erst entdeckten wir den natürlich gewachsenen Torbogen, durch den wir gerade marschiert waren: Zwei mächtige Bäume mit ineinander verschränkten Kronen. Eben noch hatten wir uns mit der Gruppe hinter uns unterhalten, und nun waren wir schlagartig allein! Alles Suchen und Rufen fruchtete nichts, unsere Mobiltelefone brachten keine Verbindung zustande. Übernachten mussten wir auf dem Waldboden. Am zweiten Morgen wurden wir immer noch im Wald wach. Besser gesagt: Wir wurden geweckt. Von einer Überzahl grobschlächtiger Gestalten.«
»Holzfäller? Räuber? Die musst du mir genauer beschreiben!«
»Klar«, gern ging er auf ihren Wunsch ein. »Alle waren mehr als mannsgroß. Schultern und Hüften breit, Brustkorb voluminös, die Beine stämmig, die Arme kräftig, und Hände wie Schraubstöcke. Alle trugen derbe Kleidung aus grobem Stoff mit Leder- oder Fellbesatz, dazu die meisten eiserne Harnische und flache Helme. Die Füße steckten in gebundenen Stiefeln aus Fell oder grobem Leder. Ihre Gesichter waren rundlich mit einem Teint zwischen hellbraun und gelblich-oliv. Unter der fliehenden Stirn schauten kleine Augen neben einer breiten Nase über runde Wangen. Der Mund war breit, und alle hatten sie einen ausgeprägten Unterbiss. Nicht nur deshalb verstand ich ihre gutturale Sprache nicht, ich hatte sie noch nie gehört gehabt. Starke Körper- und Gesichtsbehaarung hatten alle. Dem Körpergeruch nach Schweiß und Urin war nicht auszuweichen. Jeder trug ein Schwert mit gezahnter Klinge, die unterhalb der hakenförmigen Spitze um drei Fingerbreit nach hinten versprang.«
Er schluckte.
»Ich hatte schon genug über sie gelesen, sodass ich sie ganz gut kannte. Nie jedoch hatte ich geglaubt, dass es sie wirklich gibt.«
Er holte tief Luft.
Erwartungsvoll blickte sie ihn von der Seite an.
»Orks.«
»Mein Gott! Und was ist dann passiert?«
„Keiner von uns hat sich gewehrt. Sie haben uns die Hände gefesselt und uns vor sich hergetrieben. Es war ein beschwerlicher Marsch. Sie hatten weitere Gefangene dabei. Zwar durften wir nicht miteinander sprechen, aber die erzählten uns, wir würden auf einem Sklavenmarkt im Süden verkauft. Deshalb haben die Orks auch keinem von uns etwas angetan. Schließlich waren wir gutes Geld wert.«
»Sklaverei? Heute noch? Wie bist du daraus freigekommen?«
»Sie hatten mich gar nicht bis zum Sklavenmarkt gebracht. Ich hab’ die erste Gelegenheit zur Flucht genutzt, hab’ Glück gehabt.«
»Und deine Kollegen? Was ist mit denen geschehen?«
Mit einem schnellen Schritt stellte sie sich direkt vor ihn und vertrat ihm den Weg. Sie platzte vor Neugierde.
Er musste abrupt stehen bleiben, prallte dennoch fast gegen sie. Sein Schlitten stieß ihm in die Kniekehle. Er bückte sich, rieb die schmerzende Stelle. Als er sich aufrichtete, zuckte er mit den Schultern.
»Ich habe keine Ahnung, habe nichts mehr von ihnen gehört. Ich hatte mich verkrochen, bin ihnen nicht gefolgt. Vor den Orks hatte ich Angst, wollte mich nicht nochmal erwischen lassen. Ein schlechtes Gewissen hab’ ich immer noch, weil ich nicht versucht habe zu helfen. Aber darüber möchte ich nicht reden. Außerdem sind wir fast am Ziel, und ich will mich vorher noch umsehen. Lass uns weitergehen!«

Er ging so knapp um sie herum, dass sein Schlitten ihre Beine streifte, als er ihn mit einem Ruck anzog. Eine kleine Rache für ihr Abblocken eben.

© 2021 Michael Kothe
Alle Rechte vorbehalten

Auszug aus dem dritten Kapitel aus Kothes Fantasy-Roman »Siebenreich – Die letzten Scherben«. Mehr Information auf https://autor-michael-kothe.jimdofree.com/ und https://das-buch-siebenreich.jimdosite.com