Vor dem Supermarkt

Von Renate Schiansky

Noch vor dem Morgengrauen steht er auf, schiebt behutsam die Decke zusammen, ganz leise, um die andern nicht zu wecken. Man schläft ohnehin nicht wirklich gut, jetzt, wo der Winter schon seine kalten Fühler ausstreckt. Obdachlosigkeit ist im Sommer viel leichter zu ertragen.
Er zippt seine Jacke zu, schultert die blaue Segeltuchtasche und macht sich auf den Weg. Zügig lenkt er seine Schritte Richtung Innenstadt. Im Rot – Kreuz Center beim Bahnhof kann er die Dusche benutzen, danach gibt es heißen Tee und belegte Brote. So gestärkt und aufgewärmt, holt er die Zeitungen ab. 15 Stück nimmt er heute und begibt sich damit zu seinem Stammplatz vor dem kleinen Supermarkt, gegenüber des Bildungscampus. Er hat einen guten Platz zugewiesen bekommen, denn hier ist Leben, hier ist immer etwas los. Nur Samstags ist es etwas stiller.
Aber heute ist Donnerstag und ein junges Mädchen nimmt ihm, kaum dass er ausgepackt hat, die erste Zeitung ab. Ein Euro für ihn, einer für den Verein. Er hofft auf einen guten Tag. Ein guter Tag ist, wenn er mehr als zehn Zeitungen verkauft.
Die Menschen hasten an ihm vorüber, er grüßte sie alle freundlich, manche erwiderten den Gruß, manche sogar das Lächeln. Manche stecken ihm schnell im Vorbeigehen eine Münze zu. Er hilft jungen Müttern, die Kinderwägen über die Stufen zu heben und Rentnern mit ihren Rollatoren. Er passt auf die Hunde auf, die vor dem Laden warten müssen und auf die Fahrräder der Jungen, die sich nur schnell eine Dose Limonade und ein Sandwich holen.
Die Fahrräder betrachtet er immer besonders lange. Gerne hätte er auch so eines besessen. Es müsste auch gar kein so tolles, neues sein. Irgend ein altes, gebrauchtes Ding würde ihm völlig genügen. Dann wäre er schneller von seinem Unterschlupf am Stadtrand hier an seinem Standplatz, die Zeitungen könnte er auf den Paketträger klemmen und die schwere Tasche darüber festmachen. Er hebt die Schultern, seufzt leise. Vielleicht, irgendwann.
„Wie geht´s dem Bein?“ erkundigt er sich bei einem älteren Mann, der sich schwer auf seinen Krückstock stützt.
„Mal besser, mal weniger“, seufzt der Alte und steckt ihm einen Euro zu. „Die Zeitung habe ich schon“, brummt er, hebt die Hand zum Gruß und humpelt weiter.
Eine Gruppe Kinder mit bunten Mützen läuft vorbei, ein kleines Mädchen lässt seine Fäustlinge fallen. Er hebt sie auf und reicht sie der Lehrerin, die hinter der Truppe her marschiert. Sie nickt ein Danke; er lächelt, wendet sich um sieht im Spiegel der Glastüre des Supermarktes den Kindern nach, die plappernd und lachend weiter marschieren, bunte Punkte zwischen grauen Mauern. Ein Hauch von Wehmut schleicht sich in seine Augen, als er an zu Hause denkt; an sein Dorf in Rumänien und an seine beiden Töchter. Sieben und neun Jahre sind sie alt; und an das Baby, das er erst ein Mal gesehen hat. Ein oder zwei Mal im Jahr, öfter kann er nicht nach Hause fahren. so viel verdient er nicht mit seinen Zeitungen, und andere Arbeit gibt es für ihn nicht, hier nicht, und in Rumänen schon gar nicht. Aber die Mädchen brauchen Bücher und Hefte für die Schule, sie brauchen Jacken und Stiefel und zu Weihnachten, so hat er sich vorgenommen, will er ihnen ein Radio mit CD-Spieler schenken.
„Hunger?“ fragt ein schlaksiger blonder Junge, und er hebt verlegen die Schultern. Der Junge verschwindet im Laden und kommt nach einer Weile mit einer Käsesemmel und einem Becher Kaffee wieder, drückt ihm beides in die Hand, grinst ein fröhliches „Mahlzeit!“ und ist auch schon um die Ecke verschwunden.
Er kaut langsam und bedächtig.
Nicht alle Menschen sind nett, immer wieder wird er beschimpft. Es tut weh, wenn sie „Scheisszigeuner“ sagen, aber er lässt es sich nicht anmerken. Wenn sie ihn auffordern, wieder dorthin zu verschwinden, wo er hergekommen ist, wird er traurig. Aber auch das lässt er sich nicht anmerken,. Er lächelt und grüßt und wünscht jedem einen schönen Tag.
Früh schon senkt sich die Dämmerung über die schmale Gasse, es wird kühl und er schlingt die Arme um dem Oberkörper. Für einen Moment zögert er, dann legt er doch seine Tasche ab und betritt den Supermarkt. Kratzt die Münzen für zwei Minifläschchen Wodka zusammen: eines gegen die Kälte und eines gegen das Heimweh.
Noch eine Zeitung wird er los. Der Kundenstrom hat merklich nachgelassen, nur mehr sporadisch hastet der eine oder andere späte Käufer an ihm vorbei. Kaum einer beachtet den unscheinbaren dunklen Mann, der am Eingang steht.
Die Filialleiterin kommt zur Türe, blickt sich verstohlen um und drückt ihm einen Beutel mit Gebäck und ein wenig Obst in die Hand, das sie morgen ohnehin nicht mehr verkaufen kann. Er bedankt sich und sie nickt ihm zu, ein stummes „gute Nacht“, dann versperrt sie das Tor und löscht das Licht.
Er packt den Beutel und die über gebliebenen Zeitungen ein und wirft sich die Tasche über die Schulter. Die Kälte kriecht ihm in die Knochen, er schiebt die klammen Finger in die Jackentasche und macht sich auf den Weg, sein Glück in der Notschlafstelle zu versuchen. Schlimmstenfalls bleibt immer noch der Unterschlupf im Föhrenwald.

© 2021, Renate Schiansky
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