Von Michael Wiedorn
Ganz in der Mitte glotzt eine kleine, schwarze, kreisrunde Scheibe. Das Schwarz ist undurchdringlich. Das Häutchen darüber glänzt. Um die Scheibe herum läuft ein Ring. Er ist je nach dem blau, grau, grün oder tief dunkel, das der Einfachheit halber als schwarz bezeichnet wird. Kleine, exakt gleich aussehende Stäbchen, die bei bestimmtem Lichteinfall unsichtbar werden, stehen kreisförmig wie Ziffern auf einem Zifferblatt einer Uhr im Kreis. Sie sehen wie mit feinsten Präzisionsinstrumenten hergestellt aus. Die Pupille mit ihrem Ring liegt in einer porzellanweißen Fläche. Es ist hochzerbrechliches Porzellan – denkt man beim Betrachten. Ein Stoff, das zu zerstören, ein Leben zu zerstören bedeutet. Der Inhaber des zertrümmerten Auges brüllt, bis es ihm die Stimme verschlägt. Aus den Augen fließen Ströme von Blut. Das Auge ist nicht aus Porzellan. Eine feine, aller zarteste Haut überzieht das Weiß des Auges, die Pupille, die Iris, dem schwarzen Loch in das Innerste, in die verschlingende Tiefe der unendlichen Weiten der Bilder. Das Auge wird als das Fenster der Seele bezeichnet. Tiere und Menschen laufen mit geöffneten Augen durch die Welt. Sie laufen mit offenen Wunden durch das Leben. Jemand trägt seine Eingeweide sein ganzes Leben lang in den bloßen Händen. Seinen Darm, seine Nieren, seinen Magen. Schon als kleines Kind wird er irgendwann hinfallen. Er verliert aus Versehen eine Niere auf dem Straßenpflaster. Ein spitzer Kieselstein ritzt die Magenwand auf. Dreck setzt sich fest.
Ich möchte jetzt wenige Tage nach der Augenoperation die Uhrzeit wissen und blicke mit geradem Blick auf das grell leuchtende Display meines Handys. Ein spitzer Stich in die Augenwunden läßt mich sofort die Augen schließen. Es ist mir, als wäre die Spitze eines frisch geschliffenen Küchenmessers in meinen Augapfel gedrungen. Die Schneide eines Messers, dessen Stahl klar und klinisch sauber im Sonnenlicht blinkte, ist mir als ich klein war, in das Fleisch meines Fußes gerammt worden. Ein blinkendes, Metall ließ das Blut quellen in seiner üppigsten Lebendigkeit. Ich wurde unter Narkose operiert. Mein Auge wurde mit Klammern weit aufgerissen gehalten und war dem sachlich kalten Blick des Fachmannes ausgeliefert. Der Rest des Körpers war nur ein unwichtiges Anhängsel. Das Auge war von hartem, zudringlichem Licht überstrahlt. Vielleicht wurde der Augapfel oder Teile des Selben aus der Höhle genommen. Blitzblanke Scheren und Messer auf grünem Tuch. Eine Rasierklinge schneidet einer jungen Frau quer durch den Augapfel. Auf einem anderen grünen Tuch liegt der Glaskörper meines Auges. Nein – er liegt auf keinem Tuch, sondern in einer Flüssigkeit in einer Schale. Die Tunke ist rein von Bakterien. Die Reinheit von Engeln und Himmeln.
Ich sah ein Foto meines Augenhintergrundes. Die Einzelheiten leuchteten weiß und grau in einem in Dunkelheit verschlossenen Raum. Meine Netzhaut flatterte und planschte fröhlich in der frischen Flüssigkeit in meinem Augeninneren wie Schulkinder im Schwimmbecken. Sie dachte garnicht daran, an der Lederhaut anzuliegen. Ich habe in der freien Natur noch nie so etwas wie Lederhäute oder Netzhäute gesehen. Diese Worte sind für mich leblose, leere Begriffe. Im Spiegel sehe ich den Glaskörper und die Hornhaut. Meine Hornhaut soll nach Aussage meiner Augenärztin besonders dick sein. Wenn ich nicht irgendwann von rasender Selbstzerstörungswut ergriffen werde und mir das Organ rausreiße, werden mir Netzhaut und Lederhaut Ungeheuer aus der Sage bleiben. Sonne und Mond kann ich sehen.
Eine Plombe wurde an mein Auge angenäht. Sind Chirurgen gute Schneider? Werden Hochstapler, die Chirurgen spielen wollen, entlarvt, in dem man sie Knöpfe annähen läßt? Die Plombe ließ die Netzhaut nicht an die Lederhaut anliegen. In einer zweiten Operation wurde durch einen kleinen Schnitt in mein Auge Öl eingegossen. Weder Salatöl noch Heizöl. Mein rausgenommener Glaskörper wurde während der Operation irgendwo untergebracht, um in Ruhe und Muße an ihm zu arbeiten. Bitte nicht liegen lassen oder verlieren! Ich brauche ihn noch und es liegt ein Teil von mir hier. Wir behüten ihn wie unseren eigenen Augapfel! Es ist verboten Haustiere in den Operationssaal zu lassen. In einer Kfz-Werkstatt werden einem Auto Motorteile entnommen und auf ein von Ruß geschwärztes Tuch gelegt. Ein von Entzündungen und Geschwüren krebsrotes Auge liegt auf einem schmierigen Lappen.
Die Netzhaut muß an der Lederhaut anliegen, sonst fällt eines Tages für immer der Vorhang der Finsternis. Das blinde Auge schrumpft zusammen und schmerzt dabei. Etwas Totes breitet sich in der Höhle aus. Ein dünnes Häutchen im Augenhintergrund trennt das Körperinnere von der Unruhe der Außenwelt. Ein Fingernagel hakt sich durch die Höhle hindurch in die Hirnmassen ein.
© 2021 Michael Wiedorn
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