Von Michael Wiedorn
Ich versinke und versuche noch im Absinken zu erwachen. Den größten Teil meiner Lebenszeit tauchte ich in Texte unter wie der Taucher im Wasser. Die Sucht Unmengen von Büchern zusammen mit Papier und Kleister reinzuspachteln ist eine Abart der Fresssucht. Muss man dieses Suchtverhalten als Geisteskrankheit einstufen? Wie hoch ist der Leidensdruck oder gibt es bei dieser Neigung überhaupt ein Leiden? Die Betroffenen empfinden eher Lust. Sogar sehr starke Lust, die sich allerdings in den seltensten Fällen bis zum Rausch steigert. Orgasmen erleben ganz wenige äußerst selten. Intensive Lektüre führt den Leser eher in einen Traum – oder Benommenheitszustand. Die ausschließliche Beschäftigung mit Lektüre ist ein Ersatz und ein Ausweichen vor zerreißender Lust. Sie würde einen mittendurch auseinander reißen.
Abends fasst man zusammen, was man gemacht hat, was geschehen ist und welche Orte man aufgesucht hat. An Tagen, an denen man viel gelesen hat, ist man niemandem begegnet, hat nicht gehandelt, die Motorik war auf das Mindeste reduziert, man hat kaum Orte gewechselt, aber im Kopf durchquerte man Ozeane, hat sich als Mörder an schrecklichen Massakern beteiligt, ist unzählige Tode gestorben, saß mit Herrschern bei Festmahlen und darb als ausgemergelter Bettler in den stinkendsten Gossen. Gleicht eine Leseratte einem Katatoniker in der Geschlossenen? Er ist Stunden und Tage und viele Jahre zu einer erstarrten Körperhaltung versteinert und in seinem von der Außenwelt abgeriegelten Kopf rasen die entsetzlichsten Gräuel, die kein Mundzucken und kein Augenausdruck wiedergeben. Weite Teile meines Lebens saß ich und meine ganze Tätigkeit war nur reglos dasitzen. Wenn das Wetter trocken ist und es halbwegs warm ist, sitze ich in der frischen Luft auf einer Parkbank im Schneidersitz wie ein meditierender Buddhist und tauche in meine Innenwelt ab. Ich tauche nicht in meine Innenwelt ab. Ich habe gar kein eigenes Innere. Ich lasse meine klaffende Leere durch die erhabenen Gedanken und Gefühle mir weit Überlegener überdröhnen.
Als Kind war ich zu verunsichert um wie andere Kinder herumzutoben und weigerte mich an die frische Luft zu gehen. Ich lag erschöpft ausgestreckt oder saß mit übereinander geschlagenen Beinen auf meinem Bett und ertrank in den smaragdenen Wäldern und den Kristallschlössern der Märchen und Sagen. Ich hatte keine Geschwister und fand keine Spielgefährten. Die harten Zimmerwände gaben meinen Selbstgesprächen keine Antwort und ich verwandelte mich in die Hirngespinste, die meine Lektüre erzeugten. „Geh doch raus in die Sonne wie die anderen Kinder“, riefen die Erwachsenen. Eine alte Dame frug mich einmal besorgt, ob ich Krebs hätte. „Ja, in dir wuchert etwas Krankes, das dir dein Blut absaugt. Dass deine Eltern dich nicht zum Arzt schleppen?“
Lange nach meiner Pubertät entschloss ich mich, mich mit einer gesund sportlichen Tarnfarbe einzufärben. Ich saß von den frühesten Morgenstunden bis Einbruch der Nacht, wenn es Wetter und Tageslicht gestatteten, über ein Buch gebeugt in der prallen Sonne. Ich fraß die Sonne und die Sonne fraß mein Fleisch. Ich verzauberte mich von einer Kellerassel zu einem Sohn der Sonne. Wie ein liegen gelassener Gegenstand verharrte ich auf einer Bank zwischen Gebüschen am Landwehrkanal. Über mir donnerte die U-Bahn, die zur Station „Hallesches Tor“ fuhr. Die Anwohner werden meinen Anblick gekannt haben und werden beim Vorübergehen den Kopf geschüttelt haben. Berlin ist überfüllt mit Irren und Wirren. Die Jahre davor saß ich die sonnigen Nachmittage auf dem Steinplatz und später am Abend auf dem Savignyplatz in Lektüre vertieft. Ein Obdachloser starrte mich eine Zeit lang an und es drängte ihn dann, sich zu mir zu setzen, indem er mich weiter beunruhigt anglotzte und währenddem er seine Augen zwanghaft auf mich gerichtet hielt, brach es aus ihm heraus, ich sei ihm unheimlich. Nein, ich solle nicht behaupten, ich würde wirklich lesen. Das glaubt hier im Kiez niemand. Ob ich in dieser Stellung auch nachts verharre. Man hätte mich schon tief nach Mitternacht im selben Schneidersitz mit gebeugtem Kopf gesehen. Vielleicht sei ich ein Toter. Wenn er verstanden hätte, dass mein Kopf ganze Welten erschuf und mich in ferne Länder trug, wäre ich ihm noch unheimlicher gewesen. Ich war eher ein Gott und Weltenschöpfer. Die Gestalt, die man nachts gesehen hatte, war mein Gespenst. Ich führte nie ein Leben und hatte nie einen Körper aus Fleisch und Blut. Bevor ich mich nachmittags zum Lesen auf die Parkbank setzte, verschlang ich in der Unimensa zwei Teller mit Hauptspeise und Beilage, meistens drei kleine Salatschüsselchen und eine Suppe. Immer alles rein! Alles rein in das leere und öde Weltall meines Innenraumes! Wo liegt die Seele eines Menschen? In irgendeiner Hohlkammer zwischen den Hirnwindungen? Sind es die Schläuche und Knoten, die die Hirnmassen bilden? Sie liegt vielleicht im Brackwasser, das sich durch die Eingeweide kämpft. Viele brave Bürger fürchten ihr eigenes Innenleben und es ekelt sie das der Anderen.
„Wie machst du das, dass du so schlank bist? Wohin gehen denn diese Berge von Einverleibtem?“ Ich fühlte mich den Büchern, die ich verzehrte nicht gewachsen. Ein Buch, das sich mir einschmeichelnd an den Hals geschmissen hätte, hätte mich schnell gelangweilt. Ein Buch, das ich zuklappe und ich habe alles verstanden und kein Geheimnis und kein Rätsel bieten mir Widerstand, hätte ich in den nächsten Abfalleimer geschmissen. Ich las und studierte Kafka, Benn, Joyce. Suchte ich die Erhabenheit von großen Vätern und Propheten? Ich verstand nichts von mir und der Welt. Als Kind las ich Märchen und Sagen. Ein moosverschlungenes Haus mit blinden, fest verriegelten Butzenscheiben zwischen giftgrünen Tannen. Eine steingraue Greisin lockt mit ihrem zuckersüßen, liebesroten Finger die Kinder in das dunkle Innere.
Mit beginnender Pubertät las ich ein Jahr lang nichts mehr. Ich wollte nicht mehr ins Dunkel geheimnisvoller Lebkuchenhütten abtauchen, sondern ins Tageslicht der Wirklichkeit eines gesunden Jungen. Sindbad der Seefahrer und Herzog Ernst zogen über das weite Meer in nie gesehene Länder, in denen tierköpfige Menschen lebten, Länder in denen unsere Naturgesetze nicht galten. Teerschwarze Kolosse mit glutroten Augen und hinterhältige Winzlinge mit den Flügeln von Schmeißfliegen.
Mit zehn oder zwölf las ich Jugendsachbücher über den Alten Orient, über Rom und das Mittelalter. Begeistert blickte ich auf die Abbildungen in leuchtenden Farben. Azurblau. Der azurne Himmel über den Wogen des südlichen Meeres. Die Göttin Nut streckt ihren Leib über die Welt aus. Seth zerstückelt seinen Bruder. Unter einem von blauer Hitze knisterndem Himmel breiten sich glühende Steine über die heute verlassenen Wüsten aus. Die Steine liegen hier 5000, 10000, 50000 Jahre. Die Abbildungen sind nicht aus Papier, sondern ich betaste mit meinen Fingern den Basalt und den Marmor und befinde mich zwischen Mauern, die schon Nebukadnezar und Alexander der Große berührt haben. Die Gluthitze macht mich ganz benommen und ich bin im Rausch. Durch einen Zeitsprung bin ich im Pharaonenreich oder in Babylon gelandet. Die Buchstaben haben die Wirklichkeit ausgelöscht. Mein Elternhaus ist so abwesend, dass ich von ihm nicht den leichtesten Schimmer im Bewusstsein habe. Bücher zerstören die Wirklichkeit. Der allmächtige Gottkaiser kann jederzeit ohne jemandem Rechenschaft schuldig zu sein unbotmäßigen Untertanen die Gedärme herausreißen, Arme und Beine abhacken, ihnen einen spitzen, glühend heißen Pfahl in den Arsch rammen lassen. Der elektrisch geladene Sonnenhimmel verwandelt sich blitzschnell in ein tobendes und alles zermalmendes Strafgericht. Ich suchte nach einer vielgestaltigen Mythologie, deren geheimnisvolle und bedrohliche Phantome meine betäubten Gefühle, Gedanken, Antriebskräfte zu neuem Leben erwecken sollten. Mich faszinierte gerade die Bedrohung und die Gewalt in den alten Geschichten. Eine Gemüterregungskunst.
Später interessierte ich mich für Zeitgeschichte. Ich war ein junger Mann und hasste die verstaubte und vermoderte Vergangenheit. Ich wollte mich aus dem moosverschlungenen Haus und den steingrauen Greisen befreien. Die Explosionen und Revolutionen des 20. Jahrhunderts. Lenin vor den roten Fahnen der Oktoberrevolution. Die begeistert glühenden Volksmassen der Chinesischen Kulturrevolution. Ich lebte nicht mehr in der Obhut zu Hause bei meiner Mutter, sondern in der etwas raueren Luft eines Jungeninternats. In meinem Geburtshaus und später im Internat lag ich am liebsten faul und bequem im Bett und so wie ich mich nachts aus der Gegenwart des stofflich Anwesenden in meine Nachtträume entwirklichte, so entstofflichte ich mich tagsüber in die Gegenwartsabtötung der Texte. In der Schule fiel ich nie durch besonders ideenreiche Aufsätze auf. Mein Stil war trocken und karg. Ich galt als nüchtern und farblos. Ein stiller, antriebsloser und äußerungsunfähiger Angsthase mit unsicherer Gestik und leerem Gesichtsausdruck. Was hatte ich schon zu sagen? Ich hoffte immer, dass in mir ein Fremder versteckt ist, der mein mir verborgenes Ich besetzt hält.
Was unterscheidet eine Leseratte von einem Fernsehsüchtigen? Würde ein Fernsehkonsument, der viele Stunden des Tages vor der Glotze hängt, jedes gesehene Bild in seinem Kopf behalten, wäre sein Bewusstsein mit ihm selbst Gleichgültigem und Fremdem vollgestopft. Welche Erinnerungsbilder sind Erinnerungen von Erlebtem und was sind in ihn reingestopfte Fernsehbilder?
In meinem Kopf brüllte und wisperte und flüsterte ein wirres Gestöber aus meinem mir fremden Inneren, das sich mit geliehenen und eingepflanzten Gefühlen und Gedanken vermanscht hatte. Kann ich das Wirrwarr zu klaren Formen bilden?
Es zog mich mit magischer Saugkraft in jede Buchhandlung, an der ich vorbeikam. In Buchhandlungen und Bibliotheken sind sämtliche Details der Welt in winziger, zusammengepresster Gestalt anwesend. Ich erstand ganze Stapel von Büchern, deren erhebliches Gewicht ich schweißtriefend nach Hause schleppte. Was mache ich, wenn das Plastik der Tüte reißt und meine Neuerwerbungen in Regenpfützen knallen.
Der Büchermarkt wird von Massen von Neuerscheinungen überschwemmt und nochmals neuen Bücherfluten. Die Literatur ist ein unüberschaubares Meer von kleinsten Tropfen. Jeder Tropfen ist ein Buch, das ich mindestens einmal im Leben lesen sollte. Mein Zimmer füllte sich mit immer neuen Bücherbergen, die ich mich zu absolvieren gezwungen fühlte. Was muss ich lesen? Kann ich die Vielfalt der Welt in allen Einzelheiten in meinem Kopf speichern? Meinen Schädel durchschneidet ein ständiger Schmerz, als wollte die Überfüllung der einzelnen Hirnzellen ihn auseinander sprengen. Die im Kopf eingenisteten Vorstellungen und Bilder lassen die Außenwelt und mein durchblutetes Fleisch ausdörren. Klassiker, Krimis, Sachbücher und neue Fluten. Ein Ozean, der seit dem Gilgameschepos anschwellt und sich aufbläht und die Erdkugel überschwemmt und dann die Milchstraße überwinden wird. Bei Nahrungsmitteln hätten meine Magenschleimhäute mich gezwungen zu kotzen und wenn ich weitergefressen hätte, wäre ich an einem Magendurchbruch verreckt. Kaum ausgelesene Bücher quetschte ich in alte, schon etwas brüchige Plastiktüten um sie billig in Antiquariaten zu verscherbeln, um mir dort neue Haufen ungelesener Bücher unter den Nagel zu reißen. Ich sehe mich noch schwitzend, mit pochendem Herzen im Stress mit überfüllten Plastiktüten durch die Straßen Schwabings rennen. Der rasende Leerlauf zerstört und höhlt mich aus. Die Masse der Phantasien und Einbildungen zerfrisst den Körper und beißt Aushöhlungen und Löcher in das Fleisch. Es gibt mehr Fantasiertes und Geträumtes als Reales auf dem Globus.
Ich lege mein Buch zur Seite, die Stille und Reglosigkeit und das Starre meines Lebens kommen bedrohlich auf mich zu und ziehen sich um mich zusammen. Die Schlinge um den Hals des Verurteilten zieht sich zusammen. Bevor meine düstere Verlassenheit mich vollends in den Abgrund stürzt, drücke ich auf irgendeinen Knopf, der die lähmende Stille des Raumes mit sinnentleertem Geplapper füllt. Schriller Lärm in voller Lautstärke fordert mich auf, mich unbedingt in die in ihrer Tiefgründigkeit kaum auszulotende Weltanschauung Harpe Kerkelings zu vertiefen. Helene Fischer und Uta Danella. Das Kulturmagazin legt dem Publikum unter internationalen Preisen zusammenbrechende Mittelstandsbeziehungsprosa an´s Herz. Die blassen Hausfrauen, vertrockneten Büromäuschen, Oberstudienräte stürmen mit Schaum vor dem geifernden Maul, sich gegenseitig wegstoßend, lechzend nach dem topneuesten Midlife-Mittelstands-Mittelmaß- Spiegel-Hitlistenbestseller die Buchhandlungen. Es klingeln die Kassen. Immer wieder und immer wieder wird längst vielfach Durchgekautes als brüllend brandneue Neuigkeit als dachziegelschwere Schmöker auf den Markt geschmissen. Es klingeln die Kassen.
Weitab tief im Wüstensand verbeugt sich der Beduine vor den Weiten des brennenden Himmelsdaches. Neben seinem Gebetsteppich liegt das Buch. Das einzige Buch. Das glasklare Gesetz.
Was ist ein Gespräch? Was ist das? In Gegenwart Anderer wirft man beliebige Worte in die Luft. Was ist deren Sinn? Der Gesprächspartner wirft dann ebenfalls leere Silben herum. Er hat mir überhaupt nicht zugehört. Wir sind nett und höflich zueinander. Wir wollen nichts sagen, was belastend sein könnte. Keinen Streit bitte! Wo ersteht man preiswerte und schmackhafte Pizza? Wie wird in den nächsten Tagen das Wetter? Das Radio brüllt Schnulzen um die Ödnis zu übertönen. Ich verstand als Kind nicht, warum die Erwachsenen mit ihren Stimmbändern Geräusche erzeugten und hielt am liebsten die Schnauze. Viele hielten mich für stumm. Ich saß viele Stunden da wie ein Grabstein. Reglos und lautlos.
In freier Rede stolpere ich oft über im Redefluss zu bildende Satzkonstruktionen. Beim Sprechen bin ich der deutschen Sprache nicht mächtig. Ich bin hier nicht zu Hause. Erst wenn ich in Ruhe etwas schriftlich ausdrücke, kann ich mich fließend ausdrücken. Geträumte Wälder schweigen. Ich breite in der Nacht meiner Stummheit meine Flügel aus und verschwinde aus der Wirklichkeit. Ich blicke in den Spiegel und sehe nichts. Beim Versuch Erinnerungsbilder, Fantasien, Gefühle deutliche und angemessene Gestalt zu geben, sehe ich wie sich die Umrisse der Glieder meines Körpers auf dem Spiegelglas abzeichnen, um dann immer deutlicher mein Abbild in voller Größe zu zeigen. Der Widerstand des Anderen greift mich an und zeigt mir meine Grenzen. Jetzt bin ich da.
© 2021 Michael Wiedorn
Alle Rechte vorbehalten