Von Lena Kelm
Eigentlich sitzt es sich bequem, sage ich mir im Zahnarztstuhl. Sollte ich vor der Behandlung nicht eher Angst fühlen? Das liegt wohl daran, dass ich nach einem anstrengenden Arbeitstag endlich sitze und meinem langjährigen Zahnarzt vertraue. Da höre ich ihn schon eintreten.
Ein junger Arzt mit Drei-Tage-Bart und Brille reicht mir lächelnd die Hand: „Doktor Massimo Micalef! Ich vertrete meinen Kollegen, ist das in Ordnung für Sie?“ – „Sie sind ja Russe!“, rutscht mir heraus. „Oder Sie haben russische Wurzeln, ihrem Namen nach zu urteilen, er hört sich wie Maxim Michailow an.“
Er lacht und seine Augen lachen mit. „Ja, mein Urgroßvater wanderte nach Italien aus.“ – „Dann sind Sie eher Italiener?“– „Wissen Sie,“ sagt er mit einem anziehenden Lächeln, „warum die Imbissstube Bistro heißt? Vom russischen „bystro“ stammt der Begriff.“
Da fällt bei mir der Groschen. Nach der Revolution 1917 flüchteten viele Russen nach Frankreich. Sie aßen nicht in noblen Restaurants und fielen auf durch ihren Ruf „bystro, bystro!“, also: schnell, schnell.
„So war das!“, bestätigt der sympathische Arzt und verrät mir, dass er Borschtsch, die russische Kohlsuppe kennt, sein Großvater, der sie gern kochte, behauptete, es gäbe zwanzig Varianten.
Und schon hat er meine Zähne inspiziert, so viele Zweite besitze ich leider nicht mehr, die meisten habe ich in Russland verloren.
Spontan schenke ich ihm ein russisches Mischka-Konfekt und wir verabschieden uns wie zwei alte Bekannte.
Als ich später den Vater meines Lieblingszahnarztes kennenlerne, schildert er mir kurz seine Familiengeschichte. Ende des 19. Jahrhunderts wandern seine deutsch-stämmigen Großeltern – die Großmutter ist Jüdin – wegen der Pogrome von Sankt Petersburg nach Malta aus. Die Familie zieht weiter nach Sizilien und siedelt Anfang der 1930er Jahre nach Deutschland über.
Ich bin überwältigt von der Ähnlichkeit der Schicksalswege unserer Ahnen und begreife, warum ich mich zu dem Zahnarzt hingezogen fühle. Es sind die mentalen Wurzeln der Herkunft. Wir sind zwei verwandte Seelen. Uns verbinden Vergangenheit und Gegenwart, nicht nur die Stadt und die deutsche Sprache, sondern das Gefühl von Grenzenlosigkeit und Gemeinsamkeit. Dr. Micalef begegnet mir wie ein alter Freund mit einem strahlenden Lächeln, wir verabschieden uns mit dem Mischka-Ritual und dem Gefühl der Verbundenheit. Begonnen hat alles mit diesem bewegenden Moment beim Zahnarzt, mit Bistro und Borschtsch.
(Auszug: Lena Kelm. Kasachstan im Kochtopf. Rezepte & Geschichten)
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