Von Michael Wiedorn
Es ist dunkel. Er tastet sich hilflos durch das nur für ihn überall und für immer undurchdringliche Schwarz. Der Zweck und das Ziel aller Erscheinungen auf der Welt ist es ihm im Weg zu stehen. Den Sonnenstrahl erfährt er, in dem er belebende Wärme auf seiner Haut erahnt. Die Phänomene der Welt bieten keinen Anblick. Vielleicht besteht die Außenwelt schon längst nicht mehr. Nimmt der Blinde seine Sonnenbrille mit den schwarzen Scheiben ab, sieht man die blicklosen Augen – leer und unbestimmt. Wenn er noch nie gesehen hat, kann er dann in seinem Bewußtsein Bilder von Gegenständen haben? Sie stoßen an seinen Körper. Er ertastet sich die mit den Händen greifbaren Flächen und Kurven der Dinge. Vielleicht sind die Geblendeten die vollendeten Materialisten. Nichts ist wirklich, was Hände nicht berühren können. Ein Maler sieht Dinge, die er nicht anlangt und schafft Flächen, die nur mit den Augen zu betrachten sind. Ein Blickloser kann den dargestellten Inhalt eines Gemäldes oder einer Zeichnung nicht ertasten. Ein Bildhauer sieht und greift und schafft Sichtbares und Berührbares. In den Museen müßten die Plastiken zum Betasten freigegeben werden. Der Sehende sieht das Dasein als unstoffliche Bilder und hält diese Geistererscheinungen in seinem Blickfeld für harte Tatsachen. Als Blickender ist man es gewohnt, Dinge aus der Entfernung als ihre eigenen Abbilder zu sehen. Den wenigsten Objekten nähert man sich so sehr, daß sie anfangen zu riechen und ihre Stofflichkeit an den eigenen Körper stößt. Die Welt nimmt man meistens als geruchlosen Film wahr. Ich sehe und höre und halte Abstand zu meiner Umgebung. Ein des Blickes Beraubter ist ein in sich Eingekerkerter. Tote erwidern nicht den Blick der Anderen. Ausgeräumte Augenhöhlen. Formlos zerflossene Pupillen. Eine Blendung ist eine Kastration. Ein Geblendeter wird schon in der Blüte der Jugend und bei glänzender Gesundheit von Hund und Stock gestützt durch das wirre Dunkel des Lebens geführt. Die schwarzen Scheiben schützen die Normalen vor der unerträglichen Blicklosigkeit. Den Toten drückt man die Augen zu.
Blinde gucken nach innen. In der Nacht ertönen die Geräusche. Töne und Geräusche leiten sie durch das Leben. Woher kommt der Laut? Von welchem Gegenstand? Zeigt der Klang Gefahr an? Falls meine Augen ihren Dienst versagen, werde ich gezwungen sein mein Gehör zu einem Ortungsinstrument zu machen – der Welt mit ihren Klängen zuzuhören. Ich habe Angst in der Nacht im Walde spazieren zu gehen. Ein Ast knackt, es rascheln in der Nähe Blätter, irgendwo flattern plötzlich Flügel. Aus der Ferne höre ich das Aufheulen eines Motorrades oder das gleichmäßige Rauschen von Autoverkehr. Ich versuche herauszukriegen, woher die Geräusche der Straße herkommen und sehne mich nach dem Licht einer Autobahn. Das Licht gibt mir Orientierung. Das Licht bringt die Erlösung aus dem Dunkel.
Falls meine Augen verlöschen, werde ich gezwungen sein bewußter Musik zu hören. Der Blinde geht durch Felder und Straßen und läuft durch Klangtapeten. Ihn durchklingen Klangwolken.
Der Sehende steht auf einem Bild, das Straßenpflaster darstellt. Er blickt auf Bilder, die Autos darstellen, die an ihm vorbei rauschen. Darstellungen von Straßenlaternen erhellen die zusammengesetzte Bildergalerie, die eine Autobahn vortäuscht.
© 2021 Michael Wiedorn
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