Der schöne 27. September

Von Regine Wendt

Er ist anders. Schmal, in sich gekehrt, sitzt er auf der Eckcouch, vertieft in seinem Buch. In der anderen Ecke ich. Nur das Ticken der Uhren ist zu hören. Er sammelt sie, alte, teure, ungewöhnliche, er hat den Blick dafür. 11 Jahre ist er, fast unberührbar. Nicht immer, langsam rückt er näher, ich lese die Zeitung und halte den Atem an. Es dauert, kein Wort zwischen uns, jetzt ist er schon ganz nah, dann ist es soweit, einträchtig nebeneinander lesen wir, ganz vorsichtig spüre ich seine Wärme, dicht an dicht geschmiegt sitzen wir längere Zeit in totaler Ruhe. Dann klingelt das Telefon. Ein kurzes Gespräch nur, er ist wieder weit entfernt in seiner Ecke, fest eingehüllt in sich selbst.
Ich bin müde, nachts durfte ich in seinem Zimmer schlafen, das ewige Ticken der dortigen Uhren störte meinen Schlaf, wurde lauter und lauter. Ich nahm Unterschiede wahr, meine Ohren wurden schmerzhaft sensibel.
Jetzt kontrolliert er seine Wetterstationen im Haus, seine Regen- und Windmesser im Garten, über das Internet werden Wettermeldungen in der ganzen Welt abgefragt und in ein Heft notiert. Eines von vielen sauber geordneten.
Draußen ist es ausnahmsweise mal schön. Sonnenschein.
Wollen wir Herbstblätter sammeln gehen? Er springt auf, ich sause mit ihm davon. Er weiß, welche Bäume die größten Blätter haben, mit dem Tanz des farbenfrohen Herbstes vereinigt er sich, wir lachen und sind fröhlich, sammeln und zeigen uns gegenseitig unsere Schätze. Ein Kind, wie jedes andere. Dann spricht er mit den Blättern, er hält mir eins ans Ohr. Hörst du? Ich höre eine Melodie. Das machen die Farben, sagt er. Mit ihm zusammen höre ich sie auch. Atemmusik, jeder hat seine eigene.
Als wir wieder ins Haus kommen, ein Konzert der Uhren, alle zur gleichen Zeit gestellt. Nein, oben in seinem Zimmer ist es still, das kommt sicher später.
Wir packen die Blätter aus, legen Papier auf sie, und pausen sie mit den wunderbaren Adern aufs Blatt. Ich bin eifrig bei der Sache, doch er beginnt im Wohnzimmer Fußball zu spielen. Als es kracht, ausgerechnet die kleine grüne Pyramide aus Malachit, macht er einfach weiter.
So langsam bin ich nicht mehr die liebe Oma. Er ist abrupt still und ich habe das Gefühl sinnlos ins Leere zu schimpfen.
Meine Tochter und sein großer Bruder kommen nachhause, erzählen und erfüllen den Raum mit turbulentem Leben.
Er sitzt wieder in seiner Ecke mit seinen Büchern, still, in sich gekehrt. Mehr als ein leises Hallo war von ihm nicht zu hören, eingesponnen in seinen eigenen Kokon, abgegrenzt.
Eines der bunten Herbstblätter habe ich mit zu mir genommen, es ist ein Ahornblatt, golden mit roten Spitzen. Jetzt am Abend fotografiere ich es, drucke es aus und hefte es mir an die Wand. Darunter schreibe ich, der schöne 27. September.

© 2021 Regine Wendt
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