Haderer 2

Von Johannes Morschl

Berlin, Freitag 26. Juni 2020, kurz vor Mitternacht. Haderer sitzt an seinem Schreibtisch, raucht eine selbstgedrehte Zigarette und trinkt ein Gläschen Wodka. Er sagt: „Mir reicht es mit Corona und dem Masken-Tragen in Läden und öffentlichen Verkehrsmitteln. Man bekommt ja gar nicht richtig Luft unter der Maske, vor allem so alte Leute wie ich, die noch dazu Raucher sind. Hätte man vor Corona einen Laden derart maskiert betreten, dann hätten die Leute im Laden geglaubt, es handle sich um einen Überfall. Aber was soll’s, wir müssen da durch, wollen ja schließlich keine Corona-Verhältnisse wie in Brasilien unter der Präsidentschaft von Jair Bolsonaro oder wie in den USA unter der Präsidentschaft von Donald Trump haben, sonst können wir uns gleich selbst einbalsamieren.

Wir haben ja die immer pummeliger werdende, um unser aller Gesundheit besorgte Frau Merkel an der Spitze, die gerne vor ihrem Bäuchlein eine Raute mit den Fingern formt und eine Vorliebe für französische Präsidenten zeigt. Mit Sarkozy hat sie Küsschen auf die Wangen ausgetauscht, und vor Macron hat sie sich unlängst lieblich lächelnd verbeugt und dabei die Hände gefaltet, was diesem Narziss sichtlich geschmeichelt hat. Sie kann aber auch anders, kann auch ein sauertöpfisches Gesicht machen. Uh, mit welcher Verachtung hatte sie einst ihren Vorgänger im Bundeskanzleramt Gerhard Schröder von der SPD angeguckt! Die beiden waren sich wie Hund und Katze. Also, was soll da noch schiefgehen? Aber die Mutti der Nation tritt demnächst ab. Droht Deutschland danach das Chaos, der Untergang in der Barbarei? Ich glaube nicht. Die Erinnerung an sie wird mit der Zeit genauso verblassen, wie die Erinnerung an ihre Vorgänger verblasst ist, und man wird sich genauso weiter durchwursteln wie bisher. Die heilige Kuh bleibt der Kapitalismus.“

Berlin, Sonntag 28. Juni 2020, nachmittags. Haderer sitzt in seinem Wohnzimmer, trinkt grünen Tee und raucht eine selbstgedrehte Zigarette. Er philosophiert über die Maske: „Das Wort Person ist von dem lateinischen Wort persona abgeleitet, das ursprünglich ‚Maske eines Schauspielers‘ bedeutete. Persona kommt von per sonare, durch tönen, die Stimme des Schauspielers tönt durch die Maske. Im antiken Theater trug jeder Schauspieler eine typisierte Maske, die einen bestimmten Charakter ausdrückte, etwa den Bösewicht oder den Guten, den der Schauspieler in seiner Rolle darstellte. Aber tragen wir nicht alle eine Maske? Ist nicht jedes Gesicht ein Maskengesicht? Kann man nicht an jedem Gesicht den Charakter und die Rolleneinnahme der jeweiligen Person ablesen? Für den Grantler und Hundefan Schopenhauer war das ganze gesellschaftliche Leben nichts weiter als eine einzige Maskerade, ein fortwährendes Komödien-Spielen. Man spiegelt anderen und sich selbst edle und geistige Motive vor, obwohl es nur um ganz banale selbstsüchtige Interessen geht.“

Haderer begibt sich in den Vorraum seiner Wohnung, stellt sich vor den dortigen großen Spiegel und studiert sein Gesicht. Er sagt: „Der Gesichtsausdruck ist eindeutig. Von Größenwahn befallener Künstler, kurz bevor er endgültig vom Boden abhebt.“ Dann geht er ins Wohnzimmer zurück und dreht sich eine neue Zigarette.

Berlin, Dienstag 30. Juni 2020, mitten in der Nacht. Haderer sitzt im Pyjama in seinem Wohnzimmer und sagt: „Kann nicht mehr schlafen. Bin noch ganz aufgewühlt von einem höchst merkwürdigen Traum. Es war im Traum Punkt Mitternacht, als mein Handy ratterte. Ich habe ja kein Smartphone, sondern nur ein altes Handy, hinke dem technischen Fortschritt immer mehr hinterher, befinde mich für junge Leute noch in der Steinzeit. Ein Mann, der sich als Thanatos vorstellte, sagte mit dumpfer Stimme wie aus einer Gruft, er rufe aus Chora Sfakion auf Kreta an. Er müsse mir leider mitteilen, dass ich gestorben sei. Ich sei in stark alkoholisiertem Zustand bei Sturm und schwerem Seegang ins Meer gegangen und ertrunken. Ich war über diese Nachricht nicht schockiert, sondern nur ein wenig erstaunt. Der Gedanke, dass man einen Toten nicht anrufen und ihm seinen Tod mitteilen könne, kam mir erst gar nicht. Auch kam es mir nicht komisch vor, dass Thanatos meine Handyrufnummer kannte. Ich dachte nur, aha, jetzt bist du also tot, ertrunken im Libyschen Meer, wie der Teil des Mittelmeers zwischen Libyen und Kreta genannt wird.

Es schien mir ganz selbstverständlich zu sein, dass der Anruf aus Chora Sfakion kam, einem Ort mit kleinem Hafen an der Südwestküste Kretas, in dessen Nähe ich mich des Öfteren in meiner Hippiezeit aufgehalten hatte. Wenn ich damals nach Kreta reiste, hauste ich immer auf der Sweet Water Beach, auf Griechisch Paralia Glyka Nera. Sie befindet sich westlich von Chora Sfakion und ist nur zu Fuß oder mit dem Boot erreichbar. Ihren Namen hat sie von den Süßwasserquellen, die man an manchen Stellen nahe des Uferrandes findet. Gräbt man ein wenig im Kieselstrand, stößt man auf klares kaltes Süßwasser. Damals galt diese Beach noch als Geheimtipp. Normale Touristen traf man da nicht. Auf ihr tummelten sich nur junge Freaks herum, überwiegend Deutsche, Franzosen und Holländer, ab und zu auch Amis. Öschis wie mich traf man da nur äußerst selten an.

Ich war mir ganz sicher, dass es nur diese Beach gewesen sein konnte, von der ich sturzbetrunken ins Meer gegangen sein soll. Hatte vermutlich wie anno dazumal wieder einmal zu viel griechischen Wein getrunken und womöglich auch noch gekifft. Nur war ich anno dazumal ein hübscher langhaariger Bengel mit dauernd juckendem Schwengel. Versuchte mich einmal sogar auf dem Berg hinter der Beach an eine wilde Bergziege heranzumachen, die gerade irgendwelche Bergkräuter fraß. Als ich näher kam, hob sie den Kopf und blickte mich mit ihren wunderschönen Augen an. Dieser Blick blieb mir unvergesslich. Dann meckerte sie kurz und sprang äußerst elegant davon.

Bei Vollmond wurde ich brünstig wie ein Hirsch. Wenn ich mit einer Freundin auf der Beach war, war das kein Problem, aber wenn ich solo auf der Beach war, schon, da die anwesenden jungen Damen meistens schon besetzt waren, was mich aber nicht unbedingt davon abhielt, es trotzdem zu versuchen, die eine oder andere zu bezirzen. Einmal begann ich mit einer Susanne aus Hamburg im Beisein ihres Freundes Fiete zu flirten. Fiete, eigentlich ein sympathischer Typ, wurde eifersüchtig und drehte plötzlich durch. Er stürzte sich auf mich und es kam zu einer wilden Rauferei. Wir taten uns aber nicht sehr weh. Susanne ging laut schimpfend dazwischen und trennte uns. Nach einer längeren erregten Diskussion beruhigten sich unsere Gemüter und wir rauchten nach altem Indianerbrauch eine Friedenspfeife. Die beiden hatten Roten Libanesen dabei, ein exzellentes euphorisierend wirkendes Haschisch mit rötlich brauner Farbe, das von libanesischen Bauern hergestellt wird. Wir wurden immer ausgelassener, erzählten uns die verrücktesten Geschichten und bepfiffen uns vor Lachen. Von unserem schallenden Gelächter und dem Duft der Friedenspfeife angelockt, gesellte sich Florence, eine junge Französin aus Lyon zu uns. Wir tranken reichlich Wein, rauchten noch eine Pfeife und dann noch eine, und schließlich kam es doch noch zu dem von mir ersehnten Vollmondsex, und dieser zu viert, sozusagen ein flotter Vierer.

Wenn ich an jene Zeit zurückdenke, wird mir immer gleich so Ach und Weh ums Herz. Was bin ich doch für ein vergrübelter hässlicher alter Sack geworden! Werde zum Glück sowieso bald das Zeitliche segnen. Aber bitteschön, wenn schon eine Trauerfeier für mich, dann bloß nichts Trauriges oder gar Pathetisches, das wäre mir wider die Natur. Am besten macht man erst gar keine Trauerfeier, sondern stattdessen eine Fete mit heißer Musik und wildem Herumgehopse. Und bitte vergesst nicht, auch etwas von Janis Joplin zu spielen, zum Beispiel Me and Bobby McGee. Da würde ich vielleicht sogar kurz wiederauferstehen von den Toten, aber keine Angst, wirklich nur kurz, dann würde ich sofort wieder verschwinden.“ Mit diesem letzten Wunsch in Einklang geht Haderer pinkeln und legt sich danach wieder ins Bett.

© 2021 Johannes Morschl
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(Auszug aus dem Text Haderer, 2020)