Rucksack, Butter & Wunderkind

Von Lena Kelm

Als ich Ende der 90er Jahre an einen Anfängerkurs für Englisch teilnahm, um meine vor 25 Jahren erworbenen und nicht einmal passiv benutzten Kenntnisse aufzufrischen, fragte die Dozentin, eine junge Irländerin, gleich zu Anfang: „Welche englischen Begriffe sind Ihnen bekannt?“
Team, cool, okay, hello, sorry, brunch etc. wurden genannt.
„Kennt jemand ein häufig benutztes Wort?“
Stille. Unsichere Blicke, angestrengtes Nachdenken.
„Ein Wort ist Ihnen bestimmt geläufig: Baby.“
„Das ist doch ein deutsches Wort“, widersprach eine Frau.
Die Teilnehmer sahen verunsichert aus.
Die Dozentin schmunzelte. „Nein, es gibt dafür ein deutsches Wort. Fällt jemandem der Begriff vielleicht ein?“
Schweigen.
Ich meldete mich, sagte: „Säugling.“
Den anderen erschien Säugling eher als Fremdwort zumindest als Relikt. Einwanderern ist dieses Wort ein Begriff. Ich lernte es von meinen Eltern, die das Wort Baby nicht kannten. Die Dozentin verzog keine Miene. Vielleicht hörte sie nicht zum ersten Mal diese Antwort.
Erst war ich erstaunt, dann fielen mir meine Schüler ein. Über zwanzig Jahre unterrichtete ich in Kasachstan Deutsch, darunter Kinder aus dreiunddreißig Nationen. Alle sprachen neben der Muttersprache Russisch. Ich gab mir die größte Mühe, um sie zu überzeugen, dass Pionierhalstuch, Rucksack, Butterbrot, Wunderkind und so weiter, deutsche Begriffe sind, die in die russische Sprache übernommen wurden. In Italien habe ich erfahren: Kabinett heißt Toilette, in Russland bezeichnet man damit ein Büro, Saray bedeutet in der Türkei Palast, in Russland versteht man darunter eher einen Stall.
Als Sprachlehrerin hat mich das Thema der Wanderung von Wörtern und Begriffen von einer Sprache in die andere besonders interessiert. Ich bin zweisprachig aufgewachsen und machte schon als Kind mit diversen Sprachen Bekanntschaft. Sprachen verändern sich in Grenzregionen, durch Auswanderung großer Bevölkerungsgruppen, sogar während einer langen Besatzungszeit. Sprachwissenschaftler unterscheiden zwischen Fremdwörtern und Lehnwörtern. Fremdwörter sind an der Schreibweise und Aussprache erkennbar, Lehnwörter werden in die eigene Sprache übernommen. Ist Baby ein Fremdwort oder ein Lehnwort? Wie auch immer, der Prozess des Sprachwandels und der Auswanderung von Menschen geht weiter und dient der Verständigung. Das Wort Baby versteht wohl mehr als die halbe Welt.

© 2021 Lena Kelm
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