Das Knopfakkardeon

Von Fernand Muller-Hornick

Ein Tag ist wie der andere, der von vorgestern war wie der von gestern, und der von heute wird sein wie der von morgen und übermorgen. In der Früh um sechs Uhr aufstehen, ins Bad, Wagner ist nicht verheiratet, hat das Bad somit für sich allein, eine Tasse Kaffee, ein Knäckebrot mit Honig, Mantel oder Jacke übergezogen, je nach Wetter, zur Straßenbahn Nummer 3 von Heiligenort nach dem Weidmannsplatz, in das große Gebäude mit der in der Sonne reflektierenden Glasverkleidung, ein unschöner, kahler, die Langweiligkeit der modernen Architektur vortrefflich wiedergebender Kasten, am Pförtner vorbei, ein kurzer, gewohnheitsmäßiger Gruß, in die zweite Etage, Büro Nummer 7: Namensschild: Wagner, Inspektor, Tür auf, Tür zu, bis zur Mittagspause Soll und Haben, Wagner hasst Buchführung, aber was hätte er sonst lernen können. Er hätte gerne etwas gemacht, wo man seiner Kreativität freien Lauf lassen kann, aber seine Eltern hatten bestimmt: Buchführung ist ein sicherer Beruf, mit Kunst kann man kein Geld verdienen, und außerdem: Künstler sind doch alle verrückt oder Alkoholiker oder beides.

Wagner war und ist ein braver Sohn, auf den seine Eltern stolz sein können und es auch sind, einer, der seinen Beruf mit der notwendigen Sorgfalt ausübt, ohne Gewissenhaftigkeit kann man kein guter Buchhalter sein. Wagner war und ist ein sorglicher Mensch.

Pünktlich um achtzehn Uhr verlässt Wagner wie jeden Tag das Büro, um fünf Minuten später in die Straßenbahn vom Weidmannsplatz nach Heiligenort einzusteigen.

An diesem Abend ist etwas anders. Wagner wartet fünf Minuten auf die Straßenbahn, neben anderen Fahrgästen, er wartet noch zehn Minuten, bereits ungeduldig, eine nicht vorfahrende Straßenbahn bringt den gewohnten Rhythmus durcheinander .Plötzlich heißt es, die Straßenbahn kommt nicht, ein Unfall, ganz schrecklich. Fahrradfahrer unter die Straßenbahn geraten. Bestimmt kein schöner Anblick, der Kopf soll nur noch eine einzige, breiige Masse sein. Niemand weiß etwas Genaues, aber alle wissen irgendwas. Nicht anzunehmen, dass an diesem Abend noch eine Straßenbahn fährt, Wagner beschließt, zu Fuß nach Hause zu gehen, etwas anderes bleibt ihm auch wohl kaum übrig. Wenige Straßen hinter dem Weidmannsplatz, in der Pestalozzistraße, kurz vor dem Schubertplatz, Absperrung der Straße, man kann nichts Genaues erkennen, im Vordergrund Polizeiwagen mit Blaulicht, Polizisten mit Schlagstöcken versperren die Sicht. Wagner bleibt stehen, neben anderen Schaulustigen, was denn hier los sei, will er wissen, irgendein Aufmarsch von Demonstranten, gegen was, keine Ahnung, sagt einer, gegen Coronaimpfungen, sagt ein anderer, nein, gegen die Luftverschmutzung, präzisiert ein anderer.

Wagner muss einen Umweg machen, wenn er nach Hause möchte, einen Riesenumweg, unnötige und aufwendige Zeitverschwendung, und wer weiß, was noch alles passiert.

Genervt macht sich Wagner auf den Weg. Mürrisch überquert er den Wiednerplatz, als ihm jemand entgegen pfeift, jedenfalls scheint es Wagner so. Wer ihm wohl pfeift, er kennt niemanden, der das tun könnte. Da, erneutes Pfeifen. Jemand winkt ihm zu, ein Clown, bunt angezogen, mit weißem Gesicht und roter Nase, eine rote Rose in der Hand. Ein breites Lächeln auf seinem rot angemalten Mund, winkt er Wagner zu, ausgerechnet ihm, dem sonst nie jemand zuwinkt. Wagner bleibt stehen, versucht, dem Clown ebenfalls zuzulächeln, es gelingt nicht richtig, allerhöchstens ein krampfhaftes Möchtegern, einer wie Wagner lacht oder lächelt nie. Warum? Weil es nichts zu lachen gibt, meint Wagner.

Der Clown winkt ihn zu sich, reicht ihm die Hand, murmelt etwas wie „Pedro, der musikalische Clown“, drückt ihm ein Knopfakkordeon in die Hand, setzt ihm einen Strohhut auf den Kopf, und animiert ihn zu spielen. Wagner will das Instrument zurückgegeben, was soll der Quatsch, erstens kann er kein Instrument spielen, und zweitens macht er sich doch nicht hier in aller Öffentlichkeit zum Trottel. Es gibt bereits genügend Schaulustige, die stehen bleiben und auf das warten, was kommen soll. Wahrscheinlich glauben sie, Wagner bilde mit dem Clown ein Duo.

„So tun als spielen“, flüstert Pepe, oder wie er in Wirklichkeit auch immer heißt.

Wagner ist ein höflicher Mensch, er tut, wie ihm gesagt, drückt seine Finger auf die Tasten, wie ein Akkordeonspieler, und kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus. Er spielt wirklich, Pepe kann es nicht sein, der bläst auf einer Klarinette. La Paloma. Eines von Wagners Lieblingsmelodien, wenn nicht sogar sein Lieblingslied. Wagner ist plötzlich nicht mehr Wagner, sondern ein ganz anderer Mensch. Wieso kann er plötzlich Akkordeon spielen? Ein Trick wahrscheinlich, im Instrument ist ein CD-Player oder sonst etwas verborgen. Pepes Kopf nickt nein. Wagner ist es, ehrlich gesagt, auch egal, das Gefühl, er mache so etwas wie Kunst, und sei es auch nur gemogelt, überwiegt. Beim letzten Akkord öffnet sich das Akkordeon, ein Strauß roter Papierrosen schießt hervor, aus Wagners Hut plärrt ein Papagei: „Applaus! Applaus!“. Als Wagner, Pepes Anordnung Folge leistend, einer der klatschenden Damen den Strauß überreicht, steigert sich der Beifall, alle jubeln ihm zu, rufen „Bravo“, „Zugabe, Zugabe“. Wagner ist völlig überrascht, zum ersten Mal, dass ihm jemand zujubelt. Wagner ist ein dankbarer Mensch, er verbeugt sich, so, wie die Artisten in den Zirkussendungen im Fernsehen, saugt den Beifall in sich ein, als gehöre er ihm ganz allein. In diesem Moment ist sich Wagner sicher, der Umweg hatte sich gelohnt.

Offensichtlich ist Pepe mit Wagner zufrieden, er drückt ihm mindestens dreimal die Hand, bedankt sich, der Hut, in dem die Zuschauer etwas hinein werfen konnten, ist fast prall gefüllt, die Vorstellung hat sich gelohnt. Wagner nickt mit dem Kopf, murmelt etwas wie „nichts zu danken“, will gehen, aber irgendwas hindert ihn daran. Ein paar Minuten später sitzt er mit Pedro in dessen Wohnwagen, trinkt billigen Rotwein, aus Spanien, und läßt sich von der weiten Welt erzählen, von Orten, die er vorher noch nie gehört hat, von Vorstellungen, die seine Wagners Fantasie überfordern, zugleich aber auch ein bisher noch nie in diesem Ausmaß empfundenes Bedürfnis hervorrufen, alles bisher Gewesene zu vergessen und ein neues, völlig anderes, freies Leben führen zu können.

„Bis morgen neun Uhr“, sagt Pedro, dann müsse sich Wagner entschieden haben, er, Pedro, reise dann nämlich nach Bayern und weiter nach Österreich, vielleicht auch nach Italien, einen Partner könne er durchaus gebrauchen, er werde Wagner alle Tricks beibringen, es sei eine ganze Menge, irgendwo habe er auch noch ein Clownskostüm, von dem alten Partner, der habe geheiratet, aus und vorbei, das Clownleben.

„Schön, so ein Knopfakkordeon“, sagt Wagner lächelnd, das erste Mal seit Jahren.

© 2021 Fernand Muller-Hornick
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