Der gelbe Schädel

Von Michael Wiedorn

Ein Schuljunge war verträumt eine brandenburgische Landstraße entlang geschlendert. Die Kastanienbäume hatten in voller Blüte gestanden. Weit hinter dem Jungen hatte sich auf der Landstraße ein cremefarbener Trabant genähert. Er hatte es eilig gehabt – furchtbar eilig. Vor überstürzter Eile hatte der Wagen auseinander zu fallen gedroht. Das lärmende Rauschen hatte sich immer schneller genähert. Der Schuljunge hatte oft hinter dem ihm abgewandten Rücken des Vaters gesessen. Ein gefrierendes Schweigen. Das Auto war mit einem das Trommelfell durchstechenden Quietschen zum Stehen gekommen. Das eben noch vor sich hintrödelnde Kind hatte mit dem Gesicht auf dem Asphalt gelegen. Ein Schulranzen hatte fortgeschleudert mitten auf der Fahrbahn gelegen. Ein regloser Kinderkörper mitten in einer Blutlache. Die Straßenszene ist erstarrt.

Wir fuhren in der U-bahn. Erich sah mich bewundernd an, als würde er mich gleich leidenschaftlich entbrannt in sein Bett schmeißen und mit seinen Zähnen Wunden in mein Fleisch beißen. Wie er mich in aller Öffentlichkeit anglotzte, war mir peinlich, aber schmeichelte mir. Erich war nicht schön. Eigentlich eher häßlich. Er war um die Dreißig und kräftig. Sein viel zu großer, kahl geschorene Schädel war von der täglichen Nassrasur mit Schnittwunden übersät. Der leuchtend gelbe, haarlose Schädel eines brüllenden Säuglings. Er war sicher schon damals krank. Krankheiten lauern unauffällig, bis ihre Stunde schlägt. Die Lippen presste er verkrampft zusammen. Immer ein verschwitztes, weinrotes T-Shirt, hell ausgewaschene Jeans, alte Turnschuhe. Es war in den frühen Neunziger Jahren. Er vollführte geradezu einen Kult um seine Schädelrasur und rasierte auch mir mit Klingen den Schädel. In der DDR ist er bei einem Panzerbatallion der NVA gewesen. Auf dem Leintuch seiner Pritsche hat ein feuchter, gelber Fleck geprangt. Die fiesen Fressen seiner Kameraden haben hämisch gegrinst. Er rasierte auch mir den Kopf. Nach der Rasur blickte ich in den Spiegel und sah einen fremden Sträfling. Ich habe Gesichtsnarben, einen großen Zinken als Nase und dicke Adern an der Stirn.
Wir haben uns an einem langweiligen Sonntagnachmittag in einer Kneipe kennen gelernt. Ich
betrat die Kneipe. Erich saß in ein Gespräch vertieft mit einem Älteren am Fenster und sah öfters zu mir herüber. Ich saß am Tresen. Nach kurzer Zeit verließ er seinen Gesprächspartner, kam auf mich zu und sprach mich an. Er gab mir seine Adresse.
An einem diesigen Novembertag fuhr ich in seine Wohnung nahe der Schönhauser Allee. Eine verschmuddelte Wohnung. Ich empfand den leichten Ekel, den man empfindet, wenn man in einer fremden Wohnung plötzlich in etwas Feuchtes greift. Billige, gebrauchte Möbel. Verschossene, nachgedunkelte Blumentapeten. Hier wohnte ein Mensch, der mit seinem Leben nichts anzufangen weiß und irgendwann in seiner Lebensmüdigkeit versumpfen wird. Zerschlissene, ehemals rote Sesselüberzüge. Sperrholzschränke. Beim Eintreten in sein Heim stellte er sich frontal vor mir auf und gab mir einen Kuss. Er hielt mich dabei an den Hüften und blickte mir tief in die Augen. Ich war höflich und freundlich und setzte mich auf das Sofa. Er brachte gleich zwei Flaschen Bier. Er verkündete, daß er mir etwas zeigen wolle. Er schaltete den Videorekorder an und auf dem Bildschirm erschien ein sächselnder, älterer Herr in einem Fernsehstudio. Schleimig wie ein erfolgloser Vertreter, der den Leuten Staubsauger andrehen will. Mein Gastgeber verkündete mir, ich sähe „Ein Kessel Buntes“. Im Hintergrund die feisten, rosigen Gesichter von deutschen Hausfrauen, von Werktätigen aus irgendwelchen VEBs. Karat und die Puhdys wären hier auch schon aufgetreten, erklärte Erich. Der Herr auf dem Bildschirm in seinem pfefferminzgrünen Zweireiher und seiner zu großen Stahlrandbrille wies mit großen Gesten auf eine wartende Musikkapelle. Gediegene Herren um die Fünfzig mit Schnauzer und nackenlangen Haaren. Purpurrote, glänzende Seidenhemden und weinrote, nach unten hin breiter werdenden Stoffhosen. Sie warteten bei ihren Instrumenten auf ihren Einsatz. Mittendrin stand Erich hastig auf, stoppte die Sendung und hatte plötzlich das Bedürfnis dem Wessi einen ganz anderen, auch interessanten Aspekt der reichhaltigen DDR- Kultur zu zeigen. Er schob eine Kassette mit dem Sandmännchen ein. Millionen Kinder der verschiedensten Jahrgänge sind in der DDR von der selben Melodie in die Heia gelockt worden. Er sah mich ganz begeistert von der Seite an und sehnte sich nach einem ähnlich begeisterten Lächeln meinerseits oder zumindest Interesse oder Respekt für die für mich exotische DDR – Kultur. Ich langweilte mich. Sein Vater saß mit dem Rücken zum Sohn. Das Schweigen des Vaters war eisig. In der Intensivstation hatte er die Augen wie ein Toter geschlossen. Ich fand alles läppisch wie Klaus Lemke oder Thomas Gottschalk.
Erich blickte starr auf die Mattscheibe und sagte enttäuscht – er stotterte: „Kannst ja nichts dafür“ und stoppte die Einführung in die schöne, heile Welt der DDR-Unterhaltungskultur. Ich saß da und ließ mich führen und fühlte mich durch meine unentschlossene Trägheit beschämt. Ich hatte nichts zu sagen und war unfähig selbst etwas zu veranstalten. Erich legte eine Videokassette von Loriot ein. Wir saßen da und lachten immer wieder über die immer wieder wiederholten Witze. Er lachte. Ich lächelte zurückhaltend. Harpe Kerkeling drängelte sich als Königin Beatrix verkleidet ins königliche Schloß in Den Haag. Erich konnte auch beim zehnten Mal herzlich lachen. Hahaha! Die Haut ist gelb gefärbt. Die Viren warten.
Wir trafen uns in den Räumen des Offenen Kanals. Ich stand mit ihm und zwei anderen Leuten in einem recht nüchtern und kühl eingerichteten Raum. Sein frisch rasierter Schädel war wieder mit Schnittwunden übersät. Sein T-Shirt stank. Stolz zeigte er mir sein Reich. Er war stolz auf seine Sendung „Kraftpaket“. Er stotterte sich mühselig durch seine Sendung. Er erzählte mir, daß er in logopädischer Behandlung sei. „Kraftpaket“. Ging es um Heavy Metal, über Sport und Body Building? War es eine Sendung zur geistlichen Erweckung? „Power durch Dschieses!“ Er eröffnete seine Sendung mit einer Auflistung der fälligen Geburtstage von Stars und Sternchen aus Film und Show Business, Schlagersänger und Hollywoodstars, unterbrochen von Schlagern und Popmusik. Puhdys und Abba, Udo Jürgens und Mireille Mathieu. „Kraftpaket“. Er sprach die eingebildeten Zuhörer wie gute, alte Freunde an, die sich nach seiner Stimme sehnen. Er sprach in die Leere. Seine Stimme tönte vergeblich um Freundschaft buhlend gegen die Mauern des Tonstudios an. Als Kind brüllte er gegen eine Wand an. Der Name des einsamen Entertainers muß in die Welt gebrüllt werden. Er wollte aus seiner Namen – und Gesichtslosigkeit heraus. Man läuft Stunden lang über den Friedhof und liest auf den Grabsteinen lauter nichts sagende und vergessene Namen von Verlorenen. Er stotterte. Sein ganzer Körper krümmte sich. Sein Namen wird in goldprangenden Lettern über der Welt aufgehen. Erich hätte jede gut bezahlte Arbeitsbeschäftigung mit hohem Sozialstatus, aber ohne Aussicht am Himmel des Weltruhmes aus der Anonymität der Massen hervor steigen zu können, abgelehnt. Er hatte mir fast nichts von seinen Eltern erzählt. Sein Vater hatte eine hohe Position in der SED. Die Mutter war Hausfrau.
Zwischen ihm und seinen Eltern erhob sich eine Eismauer. Sein Vater verachtete ihn – den Bettnässer, den Stotterer, den Schwulen. Der Vater zeigte seinem Sohn die feindliche Schulter. Der Sohn hatte das Gesicht des Vaters nicht sehen können. Auf dem Nebensitz hatte die Mutter gesessen. An der brandenburgischen Landstraße hatten die Kastanienbäume geblüht. Der Wagen war mit einem das Trommelfell durchstechenden Quietschen zum Stehen gekommen.
Jahre später, erzählte mir jemand, daß Erich Gelbsucht bekommen hat. Er mußte ins Krankenhaus. Schnell wurde er wieder entlassen und durfte essen und trinken, was er wollte. Der lockere Arzt hat es ihm gestattet. Erich war frei und besuchte Lokale, in denen er trank, was und wieviel er wollte. Seine Leber entzündete sich. Er fühlte sich erkältet. Er fühlte Fieber. In den letzten Tagen hat sich das Weiß des Auges gelb verfärbt. Ihm wurde dunkel vor Augen. Er stürzte und fiel in ein schwarzes Loch. Reglos lag er mit dem Gesicht auf dem Asphalt. Widerliche Fluten von Eiter und Blut. Krank gelbe Tiefen, aus denen niemand auftaucht, nahmen ihn begehrend auf.

© 2021 Michael Wiedorn
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