Die Statue

Von Johannes Morschl

Ich wusste nicht mehr, wer ich bin, aber wer weiß das schon von sich? Ich befand mich unter einem Torbogen am Rande eines großen Platzes, in dessen Mitte eine Statue auf einem Sockel stand und einen langen schwarzen Schatten warf, der bis zu meinen Zehenspitzen fiel. Im Hintergrund fuhr eine Dampflokomotive mit Viehwaggons vorbei. Darüber war ein Himmel wie aus Blei. „In welchen Albtraum bin ich da geraten?“, fragte ich mich entsetzt. Ich wollte zu der Statue gehen, um sie genauer betrachten zu können, kam ihr jedoch mit keinem Schritt näher. Bei jedem meiner Schritte vergrößerte sich der Platz wie von Zauberhand nach allen Seiten. Ich trat im wahrsten Sinne des Wortes auf der Stelle. Verwirrt schloss ich die Augen und atmete ein paar Mal tief durch. Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte und die Augen wieder öffnete, stand ich auf einmal direkt vor der Statue. Ich erschrak, als ich sie so nahe vor mir sah. Sie hatte den Körper einer Frau, aber keinen Menschenkopf, sondern den Kopf einer Kuh wie die altägyptische Göttin Hathor, die manchmal mit Kuhkopf, Kuhhörnern und einer Sonnenscheibe zwischen den Hörnern dargestellt wurde. Der Kuhkopf der Statue war zwar nicht mit einer Sonnenscheibe geschmückt, sah aber auch ohne eine solche keinesfalls dumm oder hässlich aus. In seinen saphirblauen Augen lag eine abgrundtiefe Trauer. Für eine echte Kuh wäre es ein geradezu romantischer Kopf gewesen.

Ja, ich gebe zu, mich sofort in die Statue verknallt zu haben. Mir wurde bewusst, wie liebesbedürftig ich war. Ich hatte schon gedacht, diese Bedürftigkeit für immer überwunden zu haben, gleichsam zum Buddha geworden zu sein, doch nun dieser Gegenbeweis, diese mein Blut in Wallung bringende kuhköpfige Versuchung! Ich konnte nicht anders, als auf den Sockel zu klettern, auf dem die Statue stand, und ihren Körper aus elfenbeinfarbenem Marmor leidenschaftlich zu umarmen und mit Küssen zu bedecken. Ich bildete mir ein, aus dem Inneren des Marmors ein Knacken zu hören, so als wäre eine vage Erinnerung an eine frühere Existenz aus Fleisch und Blut in ihn gefahren. Nur mit dem Kuhkopf hatte ich ein Problem. Den zu küssen widerstrebte mir, obwohl er ja auch nur aus Marmor war und nicht der einer lebenden Kuh. Ich fragte mich, ob jemals jemand eine Kuh geküsst hätte, doch da fiel mir sofort ein Bauer aus Niederbayern ein, den ich flüchtig kannte, – ein sensibler, freundlicher Mann. Er verbrachte so manche Nacht lieber im Kuhstall bei seinen muhenden Geliebten, die er Zenzi, Rosi, Walli usw. nannte, als im Ehebett bei seiner Frau, der Bäuerin. Es ging folgende Anekdote über ihn herum: Als er wieder einmal erst in der Morgendämmerung aus dem Kuhstall kam, stand plötzlich die Bäuerin vor ihm und streckte ihm ihr entblößtes Hinterteil entgegen. Dabei muhte sie wie eine Kuh. Nun wäre es im Sinne eines literarischen Realismus näherliegend, über das Dreiecksverhältnis des Bauern mit seinen Kühen und seiner Frau zu schreiben, als über meine absurde Liebe zu einer weiblichen Marmorstatue mit Kuhkopf. Doch erstens bin ich kein Verfechter des Realismus, und zweitens, was ist schon realistisch? Die Wirklichkeit hat man uns nur eingeredet. Sie ist eine ziemlich trostlose Mär.

Da ratterte plötzlich ein kastenförmiger Roboter von der Größe eines etwa dreijährigen Kindes über den Platz und rief schnarrend: „Das Berühren der Statue ist verboten, verboten, verboten!“ Schon wieder diese lustfeindlichen Verbote! Das war nun wirklich wieder allerbitterster Realismus, der Verbotsrealismus, der Zwang zum Todlangweiligen. Dann erfrechte sich der Roboter, mich immer wieder anzuschnarren: „Du bist nur die Halluzination deiner selbst. Du bist nur die Halluzination deiner selbst. Du bist nur…“ usw. Ich war empört! Welcher der mich überwachenden Geheimdienste steckte hinter diesem gezielt gegen mich programmierten Roboter? War die Statue vielleicht auch nur eine Agentin, die mich mit ihrer sonderbaren Gestalt aus dem seelischen Gleichgewicht bringen sollte, welches ich allerdings nie besessen hatte? Ich war kaum noch mehr aus dem Gleichgewicht zu bringen, als ich es ohnehin schon von Geburt an war. Ich dachte trotzig: „Jetzt erst recht!“, und rieb meinen alten runzeligen Leib betont lüstern an dem Marmorleib der kuhköpfigen Frau. Und siehe da, ich bekam auch ohne Viagra eine Erektion, und diese war keine Halluzination! Dann wurde ich von einem orgasmischen Beben durchrüttelt, alles wackelte, meine Glieder, Ohren und Zahnprothesen, die Statue, der Platz und der graue Himmel darüber. Der kleine Roboter umkreiste aggressiv die Statue und mich und schnarrte immer schneller: „Verboten, verboten, verboten…“ Dies fuchste mich so sehr, dass ich mich schließlich doch noch überwand, die Statue auf ihr Kuhmaul zu küssen, nur um diesen vermaledeiten Roboter und die hinter ihm stehende verborgene Macht zu ärgern.

Alle, die sich noch an die Märchen ihrer Kindheit erinnern, können sich wohl denken, was jetzt folgt. Es ist mir fast peinlich, dies zu erzählen, weil es allzu sehr nach einem Märchen klingt. Kaum hatte ich den Kuhkopf der Statue geküsst, verwandelte sich dieser in den Kopf einer von meinem Alter her gesehen geradezu jugendlichen Frau um die 40 mit strubbeligem schwarzen Haar. Gleichzeitig erwachte die ganze Statue zum Leben. Sie sprang vom Sockel runter und drehte sich leichtfüßig tanzend über den Platz, wobei sie vor Freude jauchzte. Ich war überglücklich und wollte ihr nachspringen, aber das ging nicht! Mit mir war plötzlich etwas Schreckliches geschehen! Während die Statue nun lebte und wieder einen normalen Menschenkopf hatte, stand ich auf einmal an ihrer Stelle auf dem Sockel, zu einer Statue mit einem Stierkopf erstarrt, so als wäre ich ein Minotauros-Denkmal, ein Denkmal jenes armen Geschöpfs, das dessen Eltern – sein Vater Minos war allerdings nicht der leibliche Vater, dieser war ein von Poseidon gesandter weißer Stier – in ein unterirdisches Labyrinth gesperrt hatten, wo es eines Tages vom erbarmungslosen Theseus aus Athen mit dem Schwert getötet wurde. Ich konnte mich als Statue zwar nicht mehr bewegen, konnte aber noch fühlen und denken. In Abwandlung eines berühmten Spruchs aus Goethes Faust dachte ich: „Da steh‘ ich nun, ich armer Tor, und bin so versteinert wie nie zuvor.“

Eigentlich wollte ich diese Geschichte damit beenden, aber dann kamen mir Bedenken, dies dem geneigten Publikum anzutun, welches sich diese Geschichte anhören oder sie lesen muss. Denn die Geschichte, die einem Märchen ähnelt, hätte keinen Schluss wie ein Märchen, bei dem die Bösewichte ihre gerechte Strafe erhalten und Aschenputtel mit seinem Prinzen zusammenkommt, der vorher in einen Frosch verwandelt war und erst zum Prinzen wurde, nachdem ihn eine Prinzessin, die jede auch noch so kleine Erbse unter ihrer Matratze spürte, an die Wand geklatscht hatte, – oder so ähnlich. Irgendetwas bringe ich da durcheinander, aber egal. Abgesehen davon konnte meine Verwandlung in eine Statue schon rein logisch gar nicht das Ende dieser Geschichte sein, denn als Statue hätte ich sie nicht schreiben können. Mit gemischten Gefühlen erzähle ich jetzt den Schluss der Geschichte, den man nicht gerade als Happyend, sondern eher als Glück im Unglück bezeichnen könnte.

Der Roboter hatte sich davon getrollt. Die heimliche Macht, die den Roboter losgeschickt hatte, schien erreicht zu haben, was sie wollte. Die ehemalige Statue, nun eine prächtige Frau in bestem Alter, tanzte jeden Tag auf dem Platz um mich herum, offensichtlich um mich aufzumuntern. Sie wusste ja, wie es sich anfühlt, Tag und Nacht und bei jedem Wetter auf dem Sockel stehen zu müssen, ohne sich rühren zu können. Bald gesellte sich ein etwas tollpatschiger und schwergewichtiger Tänzer zu ihr, den sie aber nach ein paar Tagen wieder wegschickte, da er ihr beim Tanzen dauernd auf die Füße trat. Doch dann gesellte sich ein gertenschlanker, äußerst biegsamer Tänzer zu ihr, der um mehrere Jahre jünger als sie war und in den sie sich vor meinen Augen verknallte. Sie nahm keine Notiz mehr von mir, sie tanzte nicht mehr für mich, sondern war nur noch auf diesen Gigolo fixiert. Bald verschwand sie mit ihm und ich sah sie nie wieder. Ich litt wie ein Hund, dies alles mit ansehen zu müssen, ohne wenigstens schreien zu können. Ich begann an Selbstmord zu denken, befand mich aber als Statue in einer Situation, in der es mir unmöglich war, Hand an mich zu legen. Würden Statuen Hand an sich legen können, dann würde es vermutlich bald keine Statuen mehr geben.

Eines Tages kam ein schweres Gewitter auf. Es blitzte und donnerte, so als stünde der Weltuntergang bevor. Da schlug krachend ein Blitz in meinen Stierkopf ein und fuhr durch alle meine Statuenglieder. Ich spürte, dass wieder Leben in mir erwachte und versuchte mich zu bewegen. Und siehe da, es ging! Ich konnte wieder vom Sockel steigen. Als ich aber meinen Kopf befühlte, musste ich feststellen, dass er noch immer ein Stierkopf war, nun jedoch ein echter. Zuerst dachte ich: „Lieber ein lebendiger Mensch mit Stierkopf, als eine unbewegliche Statue auf freiem Platz, der jeder Vogel auf den Kopf scheißen kann.“ Dann wurde mir jedoch sogleich bewusst, dass mir mein neues Aussehen beträchtliche Probleme einbringen könnte. Wie würden meine Mitmenschen auf mich reagieren? Würden sie mich überhaupt noch als zur Gattung der Menschen zugehörig anerkennen? Außerdem müsste ich wegen meines neuen Aussehens einen neuen Personalausweis und Reisepass beantragen. Es erwies sich aber alles als nur als halb so schlimm. Meine Mitmenschen ignorierten mich genauso wie früher, und die Sachbearbeiter*innen auf den Ämtern waren derart überlastet, dass sie die gravierende Veränderung meines Aussehens gar nicht zur Kenntnis nahmen.

© 2021 Johannes Morschl
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