Von Michael Wiedorn
Die Möbel, die Computer, der Fußboden sind mit Schnee und Eis zur Verwahrung eines Toten überzogen. Draußen vor den Fenstern brennt die heiße Sonne auf sommerlich grün belaubte Bäume.
Sven meldet sich mit nüchtern geschäftiger Stimme korrekt mit Angabe seines Namens und seines Anliegens am Smartphone. Die Stimme eines jungen Mannes mit klar definierten Zielen, mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen – hanseatisch exakt. Er ist freier Mitarbeiter einer erfolgreichen Unternehmungsberatung. Er hat Wirtschaftswissenschaft studiert. Ein reelles Wissen über reelle Sachgegenstände. Fakten! Fakten! Zahlen! Wie hoch ist die Rentabilität eines Unternehmens? Interessant, uninteressant für Investitionen? Er gibt seinem Chef Bericht. Er arbeitet zu Hause und er haßt seinen Job wie die Laborratte ihr tägliches Tretrad. Das Wohl und Heil des Unternehmens sind ihm sowas von Wurst. Er verkehrt am Handy mit körperlosen Geisterstimmen. Über das Internet verständigt er sich mit Gestalten, die nicht einmal Stimmen haben. Vielleicht gibt es die ganzen Adressaten garnicht. Er sitzt den Tag über einsam und allein im Raum und kommuniziert und sieht niemanden, als säße er tief in einem Wald. Fleisch und Blut. Rein – raus. In den Nächten zum Sonntag liegt er mit weit auseinander gespreizten Beinen in einem bequemen Sling in einem Club. Stahlkolben rammen wie die Rohre an einem Motorrad oder an Maschinen in sein weiches, glitschiges, gefräßiges Loch zwischen den Beinen. Ihre männliche Kraft. In einigen Nächten bedienen ihn bis zu 40 Männer. Er hält jetzt zwei Stunden durch und verfällt dann wie ein Greis. Er schläft kaum noch, kann nicht schlafen und tastet sich todmüde durch die Tage. Sein Gesicht blendet bleich. Das Fremde spukt in seinem Blut. Sein Körper verschwendet matt daliegend die Kraft eines Leistungssportlers beim Kugelstoßen, beim Ballstoßen. In seinen Körperzellen tobt ein gnadenloser Krieg, der ihn irgendwann zermalmen wird. Er lebt im Wechselbad zwischen der ihn ausdörrenden Arbeit und der keine Erholung bringenden Mattigkeit. Er braucht das Geld. Viel Geld. Für die Wohnung, das Auto, die Ferienwohnung auf Sylt, den Urlaub. Er haßt seine Arbeit und hat keine Vorstellung von einer Arbeit, die Sinn haben könnte. Arbeit ist immer auszehrende Sklavenarbeit. Es ist ihm eine Ehre seinen Lebensstandard durch seiner eigenen Hände Arbeit zu erbringen. In seiner Jugend, als er noch stark und gesund war, tauchte er im Roten Meer und übernachtete in einem Luxushotel und war stolz, daß er sich das Alles durch seine eigenen Leistungen erlauben konnte. Der Sinn der Arbeit liegt im Geldverdienst. Er würde sich für üppigen Lohn jeden Tag acht Stunden lang in ein leeres Zimmer stellen und vor einer leeren Wand Grimassen schneiden. Niemand hätte etwas von seiner Tätigkeit, aber er wäre kein Schmarotzer. Wenn es klappt, arbeitet er an einigen Tagen bis tief in die Nacht hinein. Ein heißer Sommertag voll strahlendem Sonnenschein – von dem Sven gnadenlos ausgeschlossen ist wie ein Zuchthäusler in seinem Kerker. Am nächsten Vormittag wacht er ausgelaugt aus seinem unruhigen Herumdösen auf und neue Arbeit, die fristgerecht abgearbeitet werden muß, hat sich angehäuft. Er spürt die eisernen Kolben in seinem Arsch und sein Loch befeuchtet sich. Eigentlich erwacht er nicht aus richtigem Schlaf, sondern aus einem aufzehrendem Nebel und Gewoge. Sven weiß, daß er jetzt trotz der überwältigenden Müdigkeit garantiert nicht mehr einschlafen wird. Wird er diesen Tag heute wie eine halberschlagene Fliege nur taten – und ereignislos durchgeistern? Draußen – weit weg von seinem Appartement – ist jetzt Sommer. Hier drinnen herrscht das ganze Jahr über bitterkalter Januar. Svens schneeweißer Körper dünstet Eiseskälte in die Wohnung. Sven ist von einer tiefen Sehnsucht erfüllt. Seine Zellen brauchen eine Wärme, die aus dem Körperinneren aufsteigt – aus dem Bauch in die Glieder.
Heißer Kaffee wird ihn beleben wie die Blutzufuhr den Vampir. Strom fließt durch Kabel. Sonne und Schatten spielen an Decke und Wand. Er taucht ab unter die grau-gelbe Welle des Dämmerns und schreckt hoch. Auf dem Display seines Smartphone liest er, daß seine Firma ihm neue zu erledigende Aufträge zugemailt hat. Plötzlich spürt er einen Druck im Arsch. Dünnschiß will durchbrechen. Sven reißt sich aus der Lethargie.
Er wirft die Bettdecke hoch und rast, als wäre Feuer ausgebrochen, aufs Klo. Wird er vor der Explosion noch das rettende Ziel erreichen? Kaum hat er sich auf die Klobrille gesetzt, spritzt es aus seiner Spalte heraus. Braunes, süß-klebriges Brackwasser stürzt sich mit fanatischer Wut in die Freiheit. Sven erlebt seine Erlösung. Zu Schleim aufgeweichte Kolben triefen aus seinem Arschloch. Er lehnt sich völlig erschöpft gegen den Klokasten. Die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet. Das Blau der Venen schimmert durch die leichenbleiche Haut. Das leuchtende Rot seiner Lippen. Christus nach der Kreuzabnahme. Er hat gerade göttlich gut gefickt. Die Wohnung dröhnt von Totenstille. Er bleibt lange – Stunden lang – wie ein eben Verstorbener in dieser Position sitzen. Ein Stilleben zeigt stillgestelltes Leben.
Wie ein aus tiefer Verzauberung Erwachter steht er auf, sieht angeekelt auf das kranke Wasser in der Schüssel und spült die Scheiße herunter. Er steht vor dem Waschbecken, öffnet den Wasserhahn weit auf und beginnt sich zu waschen. Mit ruckartigen, zornigen Bewegungen wäscht er sich seinen Hintern, dann die Schenkel, den Bauch, den Rest seines Kadavers. Es hängt ein süßer, unreiner Geruch in der Luft. Krankheit und Schwäche. Sven reibt seine Haut und reibt. Er würde am liebsten seinen vollständigen Körper wegreiben. Maschinenkolben pumpen sein fieberndes Sumpfloch mit männlichem Feuer – mit männlichem Blut. Der Darm, die Galle, der Magen mit ihrem Gift müssen ausradiert werden. Er ekelt sich vor seinem Dasein hier vor dem Waschbecken. In seinen Gefäßen lauert schon der Tod, der sich vorwärts kämpfen wird. Die Haut ist von dem haßerfüllten Reiben schon knallrot. Seine Flüssigkeiten, seine Ausscheidungen bringen anderen Menschen den Tod. Sven hat die Macht andere in Sieche und Leichen zu verwandeln. Nervös reibt und prügelt er mit der Seife wieder und wieder seine Arschbacken und das Loch dazwischen. Die dünne Haut trennt ihn vom inneren Morast. Er unternimmt eine ausführliche, geduldige, ungeduldige Darmspülung und fühlt sich noch immer nicht gereinigt. Nur die Oberfläche. Auf der Oberfläche brackigen Abflußwassers schwimmen ertrunkene Ratten. Der Keller ist abgeriegelt und versperrt von festen Mauern aus Fleisch und Knochen. Welche Feuerwehr bricht die Mauern und Türen mit Brechstangen auf? Sven reibt und versucht sich zu reinigen und kommt nicht zu sich herein. Er kommt nicht zu sich. Rot flammt die Haut. Er hält vor Schwäche inne und stützt sich mit beiden Armen am Porzellan des Beckens. Er atmet schwer und bleibt länger in dieser Position. Als er sich erholt hat, wäscht er sich noch seinen Schwanz und die Hoden. Es ist längst früher Nachmittag.
Sven rafft sich auf, reißt sich vom Lavabo los und lenkt seine Füße wieder zurück zu seinem Bett, überlegt es sich anders und geht zu seinem Computer um sich den neuen Auftrag anzusehen.
Eine Möbelfabrik in Halle soll verkauft werden. Sven wird nie erfahren, wie die Fabrik aussieht. Er wird nie eine Fräsmaschine sehen. Wie sehen die Produkte aus? Schränke, Tische, Stühle. Was geht ihn das an? Er erfährt nur das Wichtige – die Bilanzen, die Betriebskosten, die Kredite, den Umsatz. Er liest Rechnungen von beglichenen und vielen nicht beglichenen Rechnungen. Warum bricht er nicht diese Arbeit ab – denkt er sich. Er darf seine Arbeit nicht abbrechen. Nie wird er den befriedigenden Augenblick erleben, daß er fertig ist mit seinem Werk, daß alles erledigt ist.
Ein bleicher Nackter übersät von blau-schwarzen Knoten liegt ausgestreckt auf einer Blechpritsche. Die geschlossenen Augen sind todesschwarz umschattet. Handelspartner, Mehrwertsteuer. Sven blättert im BGB nach den rechtlichen Grundlagen von Betriebsformen. Ein ausgemergelter Kranker in einem nächtlichen Krankenhausbett keucht und hustet und speit in eine weiße Schüssel. Von der Straßenlaterne am Kiesweg vor dem Fenster strahlt das Licht in das dunkle Krankenzimmer. Im Licht, das sich an der Decke abzeichnet, bewegen sich die Schatten der unruhigen Äste der Bäume. Sven hält sich eifrig über seine Arbeit. Die Termine müssen eingehalten werden. Seine Gedanken schweifen ab in seine Kindheit. Sein Herz schmilzt wehmütig. Drei kleine Jungs halten hungrig der Mutter ihre Teller entgegen, damit sie jedem ein Stück Torte gibt. Mit der Vertreibung aus der Kindheit hat er das Beste verloren. Svens Mutter strich sich ihre langen, blonden Haare aus ihrem Gesicht. Sie war jung. Heute ist sie eine starrsinnige Greisin, deren Liebe er sich täglich erkämpfen muß. Die Magnolien blühten in seiner Kindheit. Svens Augen füllen sich mit Tränen. Jetzt schaltet er sein Internet ab. Macht sich Kaffee, schlürft ihn gierig. Das Blut kreist in seinen Adern. Er ist kein Vampir, keine Leiche in der Anatomie.
Er legt sich wieder ins noch nicht gemachte Bett. Er schaltet den Fernseher an. Eine große Flachbildscheibe. Ein Fernsehstudio. Knallig bunt. Feuerwehrrot, Plietschblau, Grasgrün. Die Welt paßt in ein Kinderzimmer. Der Moderator – ein Mann Ende 50 – mit zynisch-freundlichem Grinsen in der Fresse. Heinoblondes Haar. Er bleckt die Zähne. Er will uns – dich, mich, uns alle – einladen ins Musikparadies. Seine gigantischen, blendametweißen Zähne. Die können zubeißen. Er stellt junge Künstler vor. Ein süßes Schnäuzchen. Ein geschminktes, purpurnes Kußmündchen.
Schwarze Kulleräuglein, die wie große Knöpfe im strahlend reinen Weiß des Gesichtes schwimmen. Künstliche Locken. Hoch oben auf der Frisur schwankt ein kleines, freches Sonnenhütchen aus Stroh. Warum fällt es nicht herunter? Der Junge hält in seinen Armen eine Gitarre. Das Publikum klatscht berauscht. Der Interpret schlägt die Griffe des Instrumentes, wie wir es alle bei den große Rockstars gesehen haben und schmachtet mit seinen rot schmelzenden Lippen von der Einsamkeit des Seemannes und der Sehnsucht. Seine schwarzen Knopfaugen blicken verträumt in die Ferne in Gestalt einer Studiokamera. Sven bekommt einen Ständer. In seiner Spalte wird es feucht. Die schmelzenden Lippen, die harten Muskeln des Jungen liegen auf dem schwer atmenden Körper Svens. Ein Elektrobohrer dreht sich genüßlich in Svens Arsch.
© 2021 Michael Wiedorn
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