Von Michael Wiedorn
Ich stehe mir selbst gegenüber. Im Spiegel betrachte ich mein Spiegelbild. Das bin ich nicht. Ich traue meiner eigenen Selbsteinschätzung nicht so recht. Ich sehe den, der ich immer sein wollte, aber nicht bin. Der Kerl mir gegenüber ist jünger als ich. Lebendige, leuchtende Augen in einem markanten Gesicht. Er sieht mich herausfordernd an. Ich will den Blick senken, aber er lässt es nicht zu. Sein Blick ist nicht müde, wie ich mich selbst fühle. Ein nicht kräftiger, aber sehnig- gesunder Körper. Es beunruhigt mich immer wieder, wenn ich mein Spiegelbild nicht sehen kann. Die saftigen, roten Lippen.
Ich gehe durch die Straßen. Plötzlich zeigt eine Fensterscheibe mein Antlitz. Eine graue Gesichtshaut, kleine Augen verankert hinter dicken Brillengläsern. Dünne, fast nicht vorhandene Lippen. Eine verödete Fläche mit Gesichtsfunktionen. Eine farblose, erstarrte Masse.
Ich stellte mir immer einen Bruder vor. Er war ich, aber er konnte doch nicht ich sein. Er hatte mein Gesicht. Sein Körper war kräftig und schlank. Er war roh und hart. Keine Brille. Früher habe ich nicht bemerkt, dass ich kleine Augen habe. Sie gelten nicht als schön. Sie geben der Visage etwas Schweinisches und Hinterhältiges. Damit hatte ich nie Schwierigkeiten.
Mein Bruder nimmt mich im Auto mit. Ich sitze auf dem Beifahrersitz. Er sitzt am Lenkrad. Die starken Arme auf das Lenkrad gestützt. Von ihm geht nichts Liebenswürdiges und Sanftes aus. Ich liebe ihn nicht und hasse ihn nicht. Ich sehe ihn nur und komme garnicht auf die Idee ihn zu berühren. Ihn zu berühren und zu lieben wäre so, als ob ich eine Glasfläche streicheln würde. Sein Arm auf dem Lenkrad. Ich möchte er sein.
© 2021 Michael Wiedorn
Alle Rechte vorbehalten