Von Renate Schiansky
Die Straßen sind menschenleer, kein Wunder bei dem Wetter. Heftiger Nordostwind treibt eisigen Schneeregen vor sich her, Geraldine ins Gesicht. Ihre Wangen brennen, ihre Augen tränen. Spöttisch strahlt die Weihnachtsbeleuchtung auf sie herab, lacht sie aus, in ihrem viel zu dünnen Mantel und den abgetragenen Halbschuhen, die weder der Nässe noch der Kälte gewachsen sind. Geraldine flüchtet für einen kurzen Moment in einen Hauseingang, schüttelt das triefnasse Haar zurecht und atmet zwei Mal tief durch. Dann hastet sie weiter in Richtung Bahnhof. In einer knappen halben Stunde geht ihr Zug. Der letzte für heute. Den muss sie unbedingt erwischen. Sie hat es versprochen!
Die Weihnachtsamnestie hat auch für Geraldine die vorzeitige Entlassung aus der Haft bedeutet. 18 Monate hat sie verbüßt von ihrer Strafe. Drogenbesitz, Ladendiebstahl. Nichts Aufregendes. Nicht zum ersten Mal ist sie in die Fänge der Justiz geraten, aber nun, so hat sie sich geschworen, sollte es endgültig das letzte Mal gewesen sein! Denn mittlerweile hatte sie zwei Kinder. Geraldine hätte es nie für möglich gehalten, dass man jemanden so sehr vermissen kann wie sie Marco und Bea vermisst hat. Nie wieder würde sie sich von den Kindern trennen lassen! Sie hat eine Therapie gemacht, ihrem fragwürdigen Freundeskreis abgeschworen, ihre Ausbildung zur Friseurin abgeschlossen und sich während ihres Aufenthaltes in der Strafvollzugsanstalt ganz allgemein mustergültig benommen. Von dem wenigen während der Haft verdienten Taschengeld hat sie ein Püppchen für Bea und eine bunt lackierte Holzeisenbahn für Marco gekauft.
Nun ist es Zeit, nach Hause zu kommen.
Geraldine fröstelt, nicht nur des Wetters wegen. Zu hause, das sind kalte leere Räume in einem baufälligen Gemäuer und ihr alkoholabhängiger Vater, vor dessen Unberechenbarkeit sie geflüchtet, dessen Wut und Zorn sie so sehr gefürchtet hat, dass sie im Alter von 16 Jahren von daheim ausgerissen ist; von einer Freundin zur nächsten, von einem Freier zum nächsten, bis sie letzten Endes auf der Straße gelandet ist. Mit ihrer Mutter hat sie noch ein paar Mal telefoniert, aber Mutter war krank an Körper und Seele, sie hat Vaters Trunksucht nichts entgegenzusetzen gehabt. Vor knapp einem Jahr ist sie dann gestorben; Geraldine hat es erst viel später erfahren von der Sozialarbeiterin, die sich um Bea und Marco kümmert und ab und zu nach ihnen sieht. Die Kinder sind nun alleine mit dem Großvater, und Geraldine ist während der vergangenen Monate beinahe umgekommen vor Sorge. Zwar hat die Sozialarbeiterin berichtet, der Großvater hätte jetzt sein Alkoholproblem im Griff und er sorge gut für die Kinder, aber was kann die Frau schon wissen, was kann sie sehen bei ihren sporadischen, angekündigten Besuchen alle paar Wochen einmal?
Geraldine hastet weiter, den Kopf gesenkt, die Schultern hochgezogen gegen den arktischen Wind. Sie friert erbärmlich, ihre Zähne klappern, ihre Zehen sind wie zu Eis erstarrt; sie zittert so sehr, dass sie Mühe hat, sich auf den Beinen zu halten.
Die Tramway hält neben ihr. Drei Stationen sind es bis zum Bahnhof. Die kann sie wohl schwarz fahren, denkt sie. In ihrem Portemonnaie hat sie gerade noch das Geld für die Zugkarte nach Hause. Erschöpft lässt sie sich auf den nächstbesten freien Einzelsitz fallen, verschränkt die Arme vor dem Körper, wippt ein paar Mal vor und zurück. Von der Heizung unter dem Sitz strömt wohlige Wärme nach oben. Geraldine schließt die Augen.
„Fahrscheine bitte!“
Geraldine erstarrt.
„Ihre Fahrkarte bitte, junge Frau!“
Der Kontrolleur ist immerhin höflich. Geraldine schluckt, zuckt dann die Achseln. „Ich habe keine“, murmelt sie verschämt.
Der Kontrolleur misst sie mit strengem Blick, von den nassen Haarspitzen zu den triefenden Schuhen, schüttelt dann den Kopf.
„Wohin fahren sie denn?“ fragt er, einen Hauch von Mitleid im Ton.
„Zum Bahnhof“, klapperte Geraldine, und ihre Stimme zittert.
„Weihnachten zu hause, wie?“
Geraldine nickt.
„Kinder?“ Wieder ein Nicken. Und dann, leise: „Zwei.“ Sie versucht ein Lächeln.
„Na dann.“ Der Kontrolleur nickt. „Kommen Sie gut heim“, sagte er und geht weiter.
Geraldine steigt am Bahnhof aus und läuft zum Ticketschalter. „Eine Fahrkarte nach Hadersdorf“, verlangt sie atemlos.
„Macht 16.40“, brummt der Schalterbeamte.
Geraldine wird erst rot und dann blass. „Aber die war doch 14,- Euro!“ stottert sie und starrt den Mann hinter dem Glasfenster aus großen Augen an. Der schüttelt den Kopf. „Vor zwei Jahren war das wohl so, junge Frau“, sagt er. „Jetzt kommen sie damit nur mehr bis Fels.“
Geraldine ist den Tränen nahe. „Dann eben eine Karte nach Fels“, flüstert sie. Schlimmstenfalls muss sie laufen. Neun Kilometer. Vielleicht kann sie sich eine Station weiter mogeln, dann wären es nur mehr sechs. Sie hastet zum Bahnsteig. Müßig, weiter nachzudenken. Der Zug steht bereit zur Abfahrt, sie springt hinein. Ein freier Sitzplatz, egal wo! Geraldine zieht den Mantel aus und schlüpft aus den durchweichten Schuhen. Ihr Gegenüber zieht missbilligend die Stirn in Faltern; sie bemerkt es, doch es ist ihr egal. Erschöpft lehnt sie sich zurück und schließt die Augen. Eine knappe Stunde bis Fels. Ganz fest umklammert sie ihre kleine Tasche mit den Geschenken. Noch ehe der Zug abfährt, ist sie eingeschlafen.
Geraldine hat Glück, der Schaffner weckt sie erst kurz nach Grafenegg. Sie stammelt eine Entschuldigung, schlüpft hastig in Schuhe und Mantel und klettert aus dem Zug. Der Wind hat merklich nachgelassen, der Eisregen ist dichtem Schneefall gewichen. Geraldine stapft los, ihre Schritte hinterlassen eine einsame Spur in der weißen Kulisse. Sie friert immer noch, aber nun hat sie es nicht mehr weit. Das Haus liegt am Ortsrand, dort, wo die Straße nach Zeiselberg abzweigt. Im Zug hat sie sich ein wenig ausruhen können, sie muss nun auch nicht mehr hetzen und rennen. Dafür greift die Anspannung wieder Platz. Wird es den Kindern wirklich gut gehen? Wird der Vater ihr den Besuch erlauben, oder wird er wieder fortjagen? Sie betet, bittet, bettelt und fleht zu allen himmlischen Mächten, während sie über den vom Schnee fast zugewehten Pfad stapft.
Sie hätte das Haus beinahe nicht wiedererkannt. Die Fassade ist in freundlichem Gelb gestrichen, die Fensterläden neu lackiert, und auch die Haustüre hat einen frischen Anstrich bekommen. Der Gartenzaun ist ausgebessert, eine Schaukel steht neben dem Apfelbaum und davor lässt sich unter der Schneedecke der Umriss einer Sandkiste erahnen. Geraldine kneift die Augen zu und schaut dann nochmal auf die Hausnummer, nur um sicher zu gehen. Und ja: sie steht tatsächlich vor ihrem Elternhaus. Lange steht sie still vor der Türe und wagt nicht, sich zu bewegen, wagt kaum zu atmen. Schnee bedeckt ihr Haar, ihren Mantel, ihre Tasche und die Schuhe. Erst, als ihre Finger vor Kälte brennen fasst sie sich ein Herz und drückt den Klingelknopf. Sie hört Schritte im Flur und ihr Mut verlässt sie, sie will umdrehen und weglaufen, ganz schnell weg, doch ihre Gelenke sind steif, unfähig zu jeder Bewegung, und da ist auch schon jemand an der Türe, streckt seinen Kopf durch den Spalt nach draußen – Geraldine schluckt. Eine fremde Frau starrt sie an, fragende braune Augen in einem runden, freundlichen Gesicht. Geraldine öffnet den Mund, weiß nicht, was sie sagen soll und bleibt stumm.
„Geraldine?“ rät die Frau, und Geraldine nickt. Daraufhin öffnet sie die Türe ganz weit. „Kind, komm rein!“ Zwei starke Arme ziehen sie ins Haus. „Du bist ja völlig erfroren!“
„Wer ist es?“ ruft ihr Vater von oben.
„Geraldine!“ antwortet die Frau über die Schulter und erklärt dann, wieder leise: „Dein Vater und ich haben vor zwei Monaten geheiratet.“ Sie schält Geraldine aus dem Mantel, holt ein Handtuch und frottiert ihr nasses Haar. „Ich bin Emma“, sagt sie, hüllt Geraldine in eine warme Wolljacke und stellt Pantoffel bereit. Mit einem leisen: „Ich mache Tee“, verschwindet sie dann in der Küche.
Geraldine steht zum ersten mal sein fast zehn Jahren ihrem Vater gegenüber. Der verharrt auf der untersten Treppenstufe, Bea an der Hand und den kleinen Marco auf dem Arm. Hätte er eine dritte Hand, würde er sich wohl verlegen am Kinn, am Kopf oder hinter dem Ohr kratzen. So nickt er nur.
„Die Kinder haben dich vermisst“, murmelt er. Er lässt Beas Hand los und stellt Marco behutsam auf den Boden. Geraldine kniet nieder und schließt die beiden in die Arme, sanft und fest zugleich. Tränen rinnen ungehemmt über ihre Wangen. Plötzlich ist die Anspannung weg, die Sorgen vergessen. Sie spürt die raue Hand des Vaters auf ihrer Schulter ruhen und weiß, sie ist zu Hause.
© 2021 Renate Schiansky
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