Promillefahrt

Von Michael Kothe

Sheryl war Schottin, ihr Mann auch. Beide arbeiteten seit eineinhalb Jahren bei einer Firma in München Bogenhausen mit international gemischter Belegschaft. Sie hatten sich gut eingelebt im nördlichen Münchner Umland, genauer gesagt in Mintraching Grüneck. Dem kleinen Mintraching, das sich fast nahtlos im Osten an Eching anschloss, nicht dem größeren weiter östlich zwischen Regensburg und Wörth an der Donau. Das gemietete Haus hatten sie für die vorgegebenen Jahre ihres Aufenthalts nach ihrem Geschmack und ihren Bedürfnissen folgend eingerichtet. Ihr Heim lag in erster Reihe am Hirtenweg, nach Westen hin direkt am Acker, dessen jahreszeitliche Entwicklung zu beobachten beide genossen. Sie genossen die verhältnismäßig kurzen Entfernungen zu ihrem Arbeitsplatz und zum Flughafen Franz-Josef-Strauß. Beide Strecken waren in etwa gleich lang, so dass auch ab und zu ein Wochenendflug nach Edinburgh, der schottischen Hauptstadt leicht zu bewerkstelligen war. Sheryl fiel der Aufenthalt auf dem Kontinent leichter als John, dem es ebenfalls schwerfiel, im Deutschkurs, der vom Arbeitgeber bezahlt wurde, mit seiner Frau Schritt zu halten.

Adventszeit.
„Wo treffen wir uns heute Abend?“
Sheryl war etwas aufgeregt. Sie hatte den vorweihnachtlichen Mädelsabend organisiert, musste nun ihren Kolleginnen Rede und Antwort stehen. Zusätzlich zu den spannenden Fragen, ob sie das richtige Lokal ausgesucht hatte, ob die Anfahrt und die Abfahrt ihrer Kolleginnen aus England und Wales bequem mit dem öffentlichen Nahverkehr zu bewältigen war, und anderer Dinge mehr. Sie hatte die Location als Überraschung geplant, man war übereingekommen, dass das Ziel des Abends erst am selben Tag preisgegeben würde. Sheryl hatte nur verraten, dass sie ein gemütliches Ambiente erwartete, das legere Kleidung vertrug. Und, dass es nicht ganz billig wäre. Aber wo war es da schon zur Saison der Weihnachtsfeiern?!
„Mach dir keine Gedanken! Wir fahren gemeinsam mit der U6 bis Garching Hochbrück, mit dem Bus über Oberschleißheim und steigen an der Bundesstraße 471 vor Dachau aus. Das Restaurant liegt ‚in the middle of nowhere‘.“
Sie kicherte.
„Ich habe reserviert im Panamericana. Im Restaurant ‚Grill Rodizio Panamericana‘.“ Der Zusatz schien ihr notwendig, Jane und Maude hatten in ihrem Unwissen ebenso die Brauen hochgezogen wie Dagmar, die einzige Nichtbritin im Quartett. Ihretwegen ‚und zum Üben‘, wie sich Sheryl eingestand, hatte sie deutsch gesprochen. Es klang immer noch ein wenig holprig, aber alle hatten verstanden. Sie war stolz auf ihre Wahl und hoffte, dass die anderen ihre Begeisterung teilen würden.
„John kommt später, wenn kein Bus mehr fährt. Maude, für dich ist die S-Bahn ab Oberschleißheim bequemer, wir lassen dich an der S-Bahnstation ´raus.“

Es wurde ein schöner Abend. Sheryl hat eine gute Wahl getroffen. Die vier waren schon begeistert, als sie direkt neben dem weißen amerikanischen Straßenkreuzer aus dem Bus stiegen. Schade nur, dass sich der Dodge-Klassiker aus den frühen 60er Jahren ein einem erbarmungswürdigen Zustand befand – der Nieselregen bemühte sich vergeblich um eine Retusche der optischen Mängel -, und dass der Vorderwagen so hoch stand, weil das typische wuchtige Triebwerk unter der Haube fehlte. Dagmar war das als erster aufgefallen. Mit einem Schulterzucken erklärten die vier die Schäden für irrelevant, und mit neugierigen Blicken auf die Ausstattung des jetzt verwaisten Gartenrestaurants mit Holzpavillon und Hollywoodschaukel marschierten sie auf das dunkle Blockhaus zu.
Innen empfing sie ein weiträumiges Ambiente mit urigen Holztischen und Stühlen, deren Polster mit weiß-braun gescheckten Kuhfellen bezogen waren. Ihnen wurde, wie Sheryl es bei der Reservierung zugesichert worden war, ein Tisch am Fenster zugewiesen. Sie saßen zwischen der Wand und einem vierrädrigen Holzkarren, auf dem sich Geschirr, Besteck und Gläser das Kuhfell mit den üblichen Ständern mit Olivenöl, Balsamiko und Salz teilten. Die hohen Pfeffermühlen standen separat. Der einzige Tisch, den sie als noch besser als ihren erachtet hatten, den Sheryl aber nicht hatte ergattern können, stand in der Nische hinter dem Kamin.
„Das ist toll,“ waren die mehr oder weniger gleichlautenden Komplimente ihrer Begleiterinnen, von denen Sheryl hoffte, dass sie nicht nur dem Lokal, sondern auch ihrer Wahl galten.
„Rodizio ist ein typisches Restaurant, das seine …, wie heißt es? Ah, seine Ursprünge in Portugal und Brasilien hat,“ gab Sheryl ihr angelesenes Wissen preis, „aber die Überraschung kommt noch. Und jetzt stoßen wir erstmal miteinander auf einen schönen Abend an!“
Ihre Cocktailgläser klirrten. Die erste Runde.
Alle hatten die Dekoration bewundert, die ihren Bezug zum Automobil weder verleugnen wollte noch es gekonnt hätte. Antike Blechschilder machten Reklame für Motoröle und Benzin, der am meisten auffallende Unterschied am Wandschmuck wurde durch skelettierte Rinderschädel und ein großes Plakat mit der Zeichnung von sechs Stieren, das auf den Stierkampf in der Arena von Madrid am 1. Mai 1936 hinwies. Die Weihnachtsdekoration war dezent und hatte nicht die Ambitionen, die ursprüngliche Eigentümlichkeit des Lokals zu überlagern.
Die von Sheryl angekündigte Überraschung war die Mahlzeit selbst. Während alle vier ihre Getränke selbst gewählt hatten, hatte Sheryl darauf bestanden, das Essen auszusuchen. Sie hatte auf ‚Rodizio‘ gesetzt. Es war ein wirklicher Höhepunkt, als der Kellner mit dem armlangen Spieß an die Tische kam und den Gästen davon gegrillte Fleischstücke auf den Teller abstreifte. Er kam häufig, hatte beinahe jedes Mal anderes Fleisch oder Wurststücke auf seinem Spieß aufgereiht. Die Gäste mussten bei diesem ‚All-you-can-eat‘ nicht einmal aufstehen.
Irgendwann waren Sheryl und ihre Freundinnen satt. Sie hatten, inspiriert durch ihre Aperitifs und durch eine Reihe von Cocktails nach dem Essen mehrmals auf das ‚Du‘ angestoßen, wobei sich Dagmar den Kalauer ‚You may say you to me.‘ nicht hatte verkneifen können.
Sheryl drehte das Handgelenk, schaute auf ihre Armbanduhr. Es war Zeit aufzubrechen. Maude hatte schon einige Male gegähnt, und Dagmar war zweimal auf ihrem Stuhl zusammengeknickt. Die Zeche zahlten die vier zu gleichen Teilen.
Es war ein gelungener Abend gewesen. Mit hochgeschlagenem Jackenkragen und mit ihrer inneren Wärme spürten sie die Nachtkälte nicht, als sie über den Parkplatz zum Auto schlenderten.

Die Heimfahrt bescherte bis Dietersheim keine Schwierigkeit.
Sie hatten Maude auf einem kleinen Umweg zur S-Bahnstation dort abgesetzt und gewartet, bis sie nach wenigen Minuten stadteinwärts in die letzte Bahn einsteigen konnte. Ihren Weg hatten sie auf der B471 fortgesetzt, hatten nach den langen Geraden auch Hochbrück hinter sich gelassen und waren nach dem Überqueren der Autobahn A9 links auf die Münchner Straße abgebogen, die in Garching ihren Namen streckenweise in Freisinger Landstraße und danach in Hauptstraße änderte, bevor sie ab Dietersheim wieder Münchner Straße hieß.
Genau hier stand der blau-silberne Audi A4. Als Sheryls matt-roter Volvo in Sicht kam, trat einer der beiden Polizisten in die Fahrbahnmitte und dirigierte mit seiner mit rot leuchtenden LEDs bestückten Kelle das nunmehr im Schritttempo fahrende Fahrzeug auf den kleinen Platz am Straßenrand und gab Handzeichen zum Anhalten.
Sheryl musste schmunzeln, als er seine rechte Hand vor dem Körper im Kreis bewegte. Auch ihr schon betagter Volvo hatte keine altmodische Fensterkurbel mehr! Deshalb kicherte sie, während sie den elektrischen Fensterheber betätigte.
Der junge Polizist legte zum Gruß die Hand an die Mütze und beugte sich zum offenen Wagenfenster herab. Er tat Sheryl Leid, als er so im Nieselregen stand und schnüffelte. Dass er den Alkoholdunst einsog und nicht etwa mit einer Erkältung zu ringen hatte, entging ihr.
Sheryl konzentrierte sich, wollte besonders nett und höflich sein, kramte ihr bestes Deutsch hervor.
„Gu-ten Abend, Herr Wacht-meister.“
Dass Mitternacht gerade vorüber war, hatte sie noch nicht registriert.
Der Polizist lächelte säuerlich. Für seine nächtliche Verkehrskontrolle bei dem vorhersehbar ungemütlichen Wetter hatte er sich nicht freiwillig gemeldet.
„Grüß Gott! Den Führerschein und die Zulassung bitte!“
Sheryl drehte sich nach hinten, fingerte vergeblich im Fußraum vor der Rückbank, bis Dagmar ihr kichernd die Handtasche reichte. Sheryl war nervös und angeheitert. Dass sie vor Fahrigkeit den Reißverschluss der Innentasche kaum aufbekam, entlockte ihr ein albern klingendes Lachen. Mit einem unwillkürlichen, breiten Grinsen reichte sie dem Beamten schließlich die Dokumente.
„Hier, bit-te-schön …“ Sie betonte jede Silbe. „Mein Füh-rer-schein und die Zu-las-sung.“
Der Polizist trat zwei Schritte zurück, begutachtete die Papiere im Lichtkegel einer Straßenlaterne, ließ seinen Blick am Volvo entlanggleiten. Er kam zurück, beugte sich wieder zum Seitenfenster.
„Haben Sie getrunken?“
Die Frage war ebenso korrekt wie in der Sache überflüssig. Sheryls Atem, der in der kalten Nacht zu einem Nebel kondensierte, bis er außerhalb des Fahrzeugs vom Niesel aufgesogen wurde, war ein einziger Alkoholdunst. Zwar war der gesamte Innenraum mit dem Geruch nach Alkohol erfüllt, aber Sheryl hatte den Polizisten direkt angehaucht.
„Isch habe mit mei-ne Freundinnen gefeiert,“ sie deutete mit dem Kopf auf die Rückbank, „wir hatten so fünfssehn Cocktails. Zu-sammen. Ach, und den Rotwein zu dem Rodi … Roditsi-o.“
Sie strahlte den Uniformierten an.
„Dann steigen Sie doch bitte einmal …“
Ein Tippen auf seine Schulter ließ ihn innehalten. Er zuckte zusammen, drehte sich zu seinem älteren Kollegen um, der gerade um den Volvo herumgekommen war und nun halb hinter ihm stand.
Der Neue nickte Sheryl einen Gruß zu.
„Nun lass mich doch!“ flüsterte ihm der Jüngere ins Ohr. „Ich will die Kontrolle zu Ende bringen. Dann hat sich die blöde Nachtschicht wenigstens gelohnt. Wir haben zumindest eine Promillefahrt verhindert und eine Betrunkene aus dem Verkehr gezogen.“
„Eben deshalb! Bevor du die Dame nun aussteigen und blasen lässt, geh doch lieber mal rüber und frag den Fahrer, ob der etwas getrunken hat!“
Der Jüngere schüttelte den Kopf. Hatte sein Kollege den Verstand verloren? Er öffnete den Mund, hatte schon die passende Bemerkung auf der Zunge.
Der Ältere legte den Zeigefinger auf seine Lippen und zog die Mundwinkel breit auseinander.
„Psst! Nur ein Wort: Rechtslenker.“

© 2021 Michael Kothe
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Aus Michael Kothes »Schmunzelmord – 25 kriminelle Kurzgeschichten aus dem Münchner Norden«, https://autor-michael-kothe.jimdofree.com bei »My Books/Krimis«. Über ein paar Amazon-Sterne würde sich der Autor freuen.