Viva Zapata!

Von Johannes Morschl

Als Hotte in der Berliner Zeitung las, eine Umfrage in Deutschland habe ergeben, dass die Roma und Sinti die am meisten abgelehnte Minderheit seien, noch mehr abgelehnt als die Asylbewerber und die Juden, die an zweiter und dritter Stelle kamen, war er empört. Er dachte: „Wieder haben sie mich ignoriert! Eigentlich müsste ich an erster Stelle der abgelehnten Minderheiten stehen. Ich empfinde es als schwere persönliche Beleidigung, mit keinem Wort erwähnt worden zu sein. Aber vielleicht ist es die schlimmste Ablehnung überhaupt, totgeschwiegen zu werden. Ja, ich bin mir ganz sicher, dass die das absichtlich machen.“

Dass seine Existenz ganz einfach übersehen wurde, schien Hottes Schicksal zu sein. Dabei war er schon im Mutterleib heftigst darum bemüht, auf sich aufmerksam zu machen. Er hatte sich andauernd unruhig hin und her gedreht und von innen gegen die Bauchwand seiner Mutter getreten. Auch bei seiner Geburt verhielt er sich höchst auffällig. Diese zog sich über Stunden hin. Er wollte partout nicht das Licht der Welt erblicken. Er schien bereits im Mutterleib geahnt zu haben, dass ihn draußen die Hölle des Übersehenwerdens erwartete.

Nur um aufzufallen, rief er manchmal laut auf der Straße oder in der U-Bahn oder in einer Kneipe: „Viva Zapata!“ Die Leute guckten ihn dann immerhin kurz an, wobei man ihren Blicken anmerken konnte, dass sie ihn für einen Psycho-Fall hielten, für einen mit einem speziellen Tourette-Syndrom, der nicht wie beim normalen Tourette-Syndrom zuckte und unflätige Wörter ausstieß, sondern unter dem Zwang stand, völlig unvermittelt „Viva Zapata!“ zu rufen. Der mexikanische Revolutionär Emiliano Zapata war ein Mann der Tat, der vor dem Ersten Weltkrieg mit einer Armee von besitzlosen indigenen Landarbeitern einen Guerillakrieg gegen die mexikanische Regierung führte, und von dem der Spruch überliefert ist: „Es mejor morir de pie que vivir toda una vida de rodillas!“ („Besser aufrecht sterben als ein ganzes Leben auf den Knien!“) Hotte hingegen war ein Zauderer. Er schob alle anstehenden Entscheidungen so lange als möglich auf. Außerdem hatte er ein Problem mit der gezwungenermaßen aus Überlebensgründen zu machenden Lohnarbeit. Im Gegensatz zu allen anderen abgelehnten Minderheiten war er nicht arbeitswillig. Er jobbte zwar öfters als Fließbandarbeiter oder Lagerarbeiter oder Nachtwächter, doch hielt er diese Jobs nie länger als ein paar Wochen durch, und auch die jeweilige Firma hätte ihn nicht länger behalten, da er fürs Fließband zu langsam war, als Lagerarbeiter hauptsächlich darum bemüht war, sich vor seinem jeweiligen Vorgesetzten zu verstecken, und als Nachtwächter nachts oft einschlief, sodass es während seines Dienstes ein leichtes Spiel für Einbrecher gewesen wäre, unbemerkt in das von ihm bewachte Objekt zu gelangen und es wieder zu verlassen, was einmal auch tatsächlich geschah.

Früher hatte Hotte darunter gelitten, keine Lohnarbeit durchhalten zu können, doch irgendwann reichte es ihm mit der Lohnarbeit und es kam ihm geradezu unsittlich vor, auch nur einen Handgriff für die Steigerung des Bruttosozialprodukts zu machen. In Abwandlung eines Liedes der Bochumer Neue Deutsche Welle-Band Geier Sturzflug, in dem es heißt: „Ja, es wird wieder in die Hände gespuckt, wir steigern das Bruttosozialprodukt“, hätte er singen können: „Nein, es wird nicht mehr in die Hände gespuckt, wir pfeifen aufs Bruttosozialprodukt.“ Er zog es nun vor, von Sozialhilfe zu leben. Er war sozusagen in einen Dauerstreik getreten. Objektiv betrachtet kann man sagen, dass Hottes Streik der deutschen Wirtschaft nicht wirklich geschadet hat, ja ganz im Gegenteil, ein arbeitender Hotte hätte ihr auf Dauer einen viel größeren Schaden zugefügt. Hotte würde zu solch einer Feststellung nur „Viva Zapata!“ rufen.

© 2021 Johannes Morschl
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