Von Michael Wiedorn
Heute bin ich tief in der Nacht erwacht. Es ist noch dunkel und ich hoffe und glaube auch gleich wieder einzuschlafen. Ich schaue nicht mehr nach der Uhrzeit und vermute, daß das Dunkel gleich von der hereinbrechenden Morgendämmerung aufgehellt wird, aber es wird nicht heller. Vielleicht wache ich um 3 Uhr auf. Die Wolfsstunde. Draußen sind die Straßen menschenleer. Es ist die Nacht vom Sonntag auf den Montag. Höchstens torkelt noch ein letzter Betrunkener durch die Gegend. Mit geschlossenen Augen, aber hellwach liege ich im Bett. Ich träume nicht. Ein Gewirr von Gedankenbrocken und Tagträumen geistert in meinem Kopf herum. Vielleicht schlafe ich tief und träume wach im Bett zu liegen. Einsam liege ich im Bett wie immer. In der Stille der Nacht spüre ich glasklar meine Abtrennung von den anderen Menschen. Meine Wohnung, die tagsüber inmitten eines Häusermeeres liegt, schwimmt nachts als Insel im dunklen Ozean. Hier ist es so still wie auf einer einsamen Insel im Nördlichen Eismeer, auf der nur der Sturm weht. Ich werde alt und bin noch nie anderen Menschen begegnet. Es ist krank andere Menschen als Gegenstände zu sehen. Das zur Maske gelähmte Gesicht ist nur ein Gummiüberzug über den Kopf einer Schaufensterpuppe. Wann war ich jemals ein Mensch? Mit zunehmendem Alter werden die Leute immer einsamer. Ich bin kaum geboren worden und bald wird mir das Alter zusehends eine Möglichkeit nach der Anderen stehlen. Auch in der tiefsten Nacht ist die Dunkelheit in der Großstadt nicht so dunkel, daß die Lichtlosigkeit wie auf dem Land ins Schwarze versinkt. In anderen Nächten bin ich aufgestanden um zu pissen ohne nur ein einziges Licht anzumachen. Der Himmel ist jetzt schmutzig braun. Gibt es denn in der Wirklichkeit richtiges Schwarz? Ein kranker, gealteter Körper, geschwächt von den Schnitten und Blutungen einer Operation wartet die Nacht über in einem Krankenhauszimmer. Von der Straße dringt Licht ein. Das Leben in einem Krankenhaus darf nie stillstehen. Man muß auf den Notfall eingestellt sein. Meine geöffneten Augen blicken in die düsteren Zimmerwinkel. Die Ecken des Zimmers im Schatten von Schrank und Kommode sind lichtlos. Aber sind sie schwarz? Der Atem des Patienten ist regelmäßig. Der ruhige Rhythmus bedeutet Leben. Plötzlich bricht der Atem ab. Stille Nacht! Heilige Nacht! Völlige Geräuschlosigkeit. Vielleicht bin ich taub? Die Ohren sind mir abgefallen. Ein Scheinwerferlicht, wahrscheinlich von einem einfahrenden Krankenwagen erleuchtet kurz Bett und Schrank. Die Gestalt im Bett schläft jetzt noch tiefer. Allein liege ich weit weg in einem Zimmer irgendwo im All. Ich hatte nie Verwandtschaft. Niemand hat mich jemals gekannt. Die Kanten der Möbel verschwimmen im Trüben. Liege ich wach? Tauche ich ab in den Schlaf? Von meiner Wohnungstüre höre ich Geräusche, als wollte ein Fremder in meine Wohnung. Metall kratzt und schabt an Holz. Ich bin zu müde um aufzustehen um nach dem Rechten zu sehen. Die Müdigkeit ist ein Netz, das mich gefangen hält wie eine Mücke in Spinnweben. Die Türe öffnet sich lautlos und ein Wildfremder in meiner Gestalt und in meiner Kleidung tritt ein. Todmüde vom Treiben in der weiten Welt, was habe ich draußen überhaupt zu suchen gehabt, ziehe ich meine schlammverkrusteten Stiefel aus. Draußen ist es so verdammt kalt. Schnee fällt. Ich blicke ins Dunkel und ein Vogel flattert ratlos durchs Zimmer und wird von einer Zimmerecke verschluckt. In Fluten fällt das, was ich immer für meinen Körper gehalten habe, in die Tiefe. Der Patient im Krankenbett hat es aufgegeben zu atmen. Wer wird seine Beerdigung organisieren? Die blutigen Schnitte und Messer der Operation haben versagt.
Ich falle plötzlich wach ins Tageslicht und ich sehe von meinem Bett aus, daß die Mauern vom sanft goldenen Licht der Sonne beschienen sind. Bin ich müde oder was hindert mich einfach aufzustehen? Ich bin immer noch in die Spinnweben verstrickt. Für heute habe ich nichts vor. Ein langer, langer Tag ohne Termine oder Verabredungen wie unzählig viele andere Tage. Der Wetterbericht hat heute Sturm und Regenschauer angesagt. Heute wird während meines Aufenthaltes auf der Straße die Welt untergehen. Der Blitz wird aus dem Himmel mir direkt in den Schädel jagen. Ein unerträglich stechender Kopfschmerz wird meine Hirnmassen auseinander reißen. Der Blitz wird tief in die Erde stürmen und mein entseelter Körper verschwindet im Magma. Megma. Heute muß ich noch einige wichtige Dokumente für den Steuerberater kopieren. Mein Eisschrank ist leer. Ich liege auf dem Bett und starre zur Zimmerdecke hoch. Meine Trägheit!
Meine verdammte Trägheit zieht mich in die Bettwäsche und in die Matratze hinein. Das Bett saugt und saugt wie ein Moor. Ein Fremder steht in meinem Badezimmer und wäscht sich seine von Schlamm und krustigem Rot verdreckten Hände im Waschbecken. Seine Hände in Unschuld waschen. Mein verschmutztes Gesicht blickt erschrocken in den Spiegel. Was ist in der Nacht geschehen? Mit aller Gewalt reiße ich mich aus dem Sumpf und sitze aufrecht auf dem Bett und blicke auf das Display meines Handys. Es ist 7 Uhr 19. Ich stehe auf und renne gleich in die Küche um an dem von gestern übrig gebliebenen Tee zu nippen. Dann gehe ich ins Badezimmer. Im Spiegel sehe ich meine geröteten Augen. Die Tränensäcke wirken im Morgenlicht im Badezimmer noch recht zurückhaltend. Ich bin noch jung – denke ich. An den Schläfen kämpft sich das Grau durch. Mein Gesicht ist grau und bleich. Mein Anblick langweilt mich. Ich blicke weg und weiß nicht, ob ich meinen Anblick mögen soll. Träume sind Schäume. Ins Schlafzimmer zurückgekehrt greife ich zur Hantel und hebe sie 25 mal. 9 mal 25 mal werde ich sie heben, immer wieder unterbrochen von kleinen Pausen, in denen ich in Programmheften und Prospekten nachsehe, was es heute für Veranstaltungen gibt. Ich putze mir mit der Zahnseide die Zwischenräume meines Gebisses. Das Pferdegebiß! Zähne, die beißen und reißen. Wann fallen sie aus? Dann stürze ich mich wieder zum Eisen um meinen Körper als feste Gestalt zu sichern. Ja, ich habe Angst! Meine Trägheit wird meine Glieder lähmen. Die bleierne Müdigkeit wird meine Arme schwermachen, daß ich sie nicht mehr bewegen kann. Sie wird meine Beine beschweren und sie werden immer schwächer werdend mich nicht mehr tragen können.
Nirgendwohin. Bettlägerig wird sich meine Matratze in Erde und Moos verwandeln. Einige Tote sind nie verstorben, sondern bleiben zu lebenslänglich verurteilt am Leben. Blut zirkuliert durch mein Herz. Die Lungen atmen die Luft ein und aus. Ich bin wach und mit allen Sinnen da. Jede Nacht üben wir für die endgültige Leere. Ich muß so vieles erledigen und habe alles immer aufgeschoben. Ich brauche einen Internetanschluß und weiß nicht, wie daß vonstatten gehen soll. Ich bin Analphabet. Ich bin ein hilfloser Greis, ein Idiot, dem man gnädig die Hand reichen muß, damit er die alltäglichsten Aufgaben erledigen kann. Die Technik weigert sich meine Anweisungen auszuführen. Geheime Mächte, die die digitale Gegenwelt beherrschen, zaubern eine Mauer, die sich mir immer wieder entgegenstellt. Die Welt wird von unsichtbaren Wellen beherrscht. Sie kennen mich. Sie kennen jeden. Es gibt keine Materie. Die Augen sehen nur die oberflächliche Hülle. Die Finger greifen ins Leere. Ich schreibe Texte. Natürlich handschriftlich. Hände aus Knochen und Fleisch greifen und bearbeiten Papier, das aus dem Holz der Wälder erschaffen worden ist. Ein Autor, der heute nur handschriftlich arbeitet, wird sein Leben lang stumm und autistisch in seine Kemenate eingesperrt bleiben. Bevor jemand sprechen kann, sollte er sich mit den Geistermächten des Internet vertraut machen. Ich will einen Text kopieren. Ich drücke das Logo, das einer Filmkamera ähnelt. Statt des Kopiervorganges öffnet sich ein Kästchen mit rätselhaften Zahlen und Buchstaben. Ich ziehe die Maus auf „Speichern“ und der Monitor glaubt seine Aufgabe erledigt zu haben. Nichts wird kopiert und ich sitze mit ratlosem Gesicht vor dem Bildschirm.Ich schicke wieder die Maus auf das Logo, das den Kopiervorgang verspricht und wieder geschieht nichts. Mir wird klar, daß meine Absichten von Mächten behindert werden. Ganz bewußt. Etwas stellt sich mir schadenfreudig und feindselig entgegen. Etwas. Die geistige Macht, die die Welt in Besitz genommen hat. Ich lasse die Maus die unterste Leiste berühren und meine Seite löst sich auf und ich bin wieder im hoffnungsvollen Himmel behängt mit vielen fröhlich bunten Bildchen. Google, Facebook, Yahoo. Ich bin aus rausgeschmissen worden. Zorn durchglüht mich. Das Blau lacht mich hämisch an. „Du Trottel“ Ich möchte das Blau des Bildschirmes einschlagen und Blut und Schreie sollen aus dem zertrümmerten Kasten dringen.
Zerschlage ich die Scheibe zur anderen Welt, werden Drähte und Kabel zwischen den Splittern erscheinen. Ich bin der Arsch. Zwischen den Splittern zieht und saugt mich eine Leere ins Andere, Nichtstoffliche hinein. Eine weiße Hand wird mich in eine weiße Wüste des Nichts ziehen. Eine Scherbe wird mir eine tiefe Wunde an der Handwurzel beibringen. Schnittwunden am Arm. Der plötzlich stechende Schmerz würde mich aggressiv wie zubeißende Tigerzähne wieder zur fleischlichen Welt erwecken. Tod und Mord erwecken die Menschen. Ich werde niemals etwas kopieren. Welche Papiere brauche ich für den Steuerberater? Wo soll ich den ganzen Scheiß zusammensuchen? Vereinzelte Papiere, lose in den Ämtern und durch meine Zimmer flatternde Blätter mit Zahlen und Rechtsbelehrungen. Falls der Vertragspartner nicht zahlt, ist er verpflichtet nach § xy so und soviel zahlen. Gehe ich heute zum Copy-shop? Mich kotzt alles an. Die ganze Ödnis eines Tages, an dem nichts geschehen wird. Die Sonne scheint. Im Radio haben sie eine Unwetterwarnung durchgegeben. Schwere Regenschauer werden die Straßen im Wasser ertränken. Die Flüsse werden über die Ufer treten. Mein Körper wird von den Fluten gereinigt werden. Wenn ich heute noch etwas erledigen will, muß ich mich sputen. Draußen weht der Wind. Die Bäume biegen und beugen sich. Sie entwickeln sich zu fröhlichen Tänzern. Die Häuser vor meinem Fenster werden heute Abend Schutthaufen sein.
© 2021 Michael Wiedorn
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