Von Michael Wiedorn
Ich habe also das Gefühl, ich könne fliegen. Tief unten liegen die Felder in ihrem satten Grün. Tief unten liegt ein lebloser Männerkörper mit dem Gesicht zum Boden. Das, was mein Körper zu sein scheint, ist federleicht. Vielleicht gibt es ihn schon garnicht mehr? Ist es der selbstlose Blick einer Kamera? Der Blick sieht von immer höher hinab in die Tiefe. Sehe ich einen Film oder träume ich? Ich habe jeden Zugriff auf die Gegenwärtigkeit der Dinge verloren. Mein Körper liegt vielleicht ruhigstellt in einem Bioadapter oder einer Kühltruhe und halluziniert sich als jungen, athletischen Kampfpiloten in Spielfilmen nachinszenierten Abenteuerszenen. Wir durchschreiten gemeinsam mit Laserwaffen bestückt brennende Städte und Dschungel, die es nie gegeben hat und nie geben wird. Ich bin in künstlich produzierte Fantasien eingesperrt. Ich hatte also das Gefühl, ich könnte mit anderen gemeinsam in Freiheit leben. Unsere wirklichen Körper sind gelähmt und verkümmert. Die Hirnsynapsen sind über Schläuche mit Traummaschinen verbunden, die uns ein heißes Abenteuerleben vorgaukeln. Physisch existieren wir nicht mehr. Die stoffliche Wirklichkeit hat sich schon längst in gespenstische Bilder verflüchtigt.
Ich habe also das Gefühl, ich könne fliegen.
Auf einem Dach flattert ein Mann mit seinen Armen wie ein Vogel. Werden ihm Federn, Flügel und ein Schnabel wachsen? Seine Beine schwanken. Sein noch menschliches Gesicht strahlt selig. Er steht unmittelbar am Dachrand – an der Dachrinne. Trunken lächelt er tief hinab auf die weit unter ihm liegenden Straßen. Er streckt seine Arme auseinander und schlenkert sie auf und ab. Ein Vogel hebt vom Dach ab.
© 2021 Michael Wiedon
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