So viele Tage

Von Michael Wiedorn

So viele Tage scheinen sich restlos in die Leere aufgelöst zu haben – nicht nur die Zeit der frühen Kindheit. Ich weiß nichts über die Jahre vor meiner Gedächtnisbildung. Meine Lebensgeschichte habe ich als mir von Anderen erzählten Text auswendig gelernt. Die Vergangenheit ist überwiegend eine Müllhalde von Vergessenem. Alles ist verschwunden. Ich bin mir abwesend.
Einige Augenblicke blinken aus der diffusen Masse auf. Häufig sind es ganz banale Erinnerungsblitze. In welchem Zusammenhang stehen der fremde Garten, das fremde Haus oder das seltsame Gesicht? Würde man sich anderer Momente erinnern, hätte man einen anderen Lebenslauf. Wäre ich ein Anderer, der befremdet auf den der ich jetzt bin, blickt? Das Wichtigste bleibt mir vielleicht immer verborgen. Jeder abgetauchte Tag häuft den Berg des stumpf Bewusstlosen auf. Es ist ein Berg abgestorbenen Lebens, ein Vorratslager des Krankhaften, der eines Tages über mir zusammenbrechen kann.
In der Schläfrigkeit, bei geschlossenen Augen sieht man mit äußerster Genauigkeit unbekannte Gesichter, als hätte man sie schon mal gesehen. Ein Schulvormittag blitzt auf. Draußen scheint die Sonne auf Herbstlaub. Durch die geöffneten Fenster weht leichter Wind. Es riecht nach gebohnerten Fußböden und den Körperausdünstungen der Mitschüler. Der Lehrer im beigen Sakko zeigt mit dem Stab auf die Tafel. Sein Gesicht ist eine graue Fläche aus zerknitterter, feucht glänzender Haut. Einige Haare über der Mundöffnung. Seine Gesichtszüge kriege ich nicht mehr zusammen. In mir lauert noch der Schimmer eines Gefühles oder eines Gedankens, den ich glaube damals gehabt zu haben. Ich hatte damals zum Beispiel Hunger und wartete ungeduldig auf den Schulschluss am Mittag. Ein überfüllter Bus bringt mich durch die sonnige Herbstlandschaft nach Hause. Braune Äcker. In der Ferne Hochhausrohbauten. Danach wieder Leere, nichts.
Habe ich das geträumt? Eines Abends stehe ich auf dem Balkon eines modernen Wohnblocks im Süden. Vom Hafen ertönen Schiffshörner. Mehrere Türen und Fenster führen auf den Balkon.
Wäscheständer stehen vor der Balkonbrüstung. Hinter einigen Fenstern brennt schon Licht. Die Mücken fliegen ins Helle. Ich blicke auf einen Hof, der auf vier Seiten von Häusern umgeben ist. Das Weiß des Betons ist im anbrechenden Abend in Blau getaucht. Freude erfüllt mich und ich bin erwartungsvoll. Dieses Bild einer Abenddämmerung hat mich immer sehr beeindruckt und stand mir sehr deutlich vor Augen. Wann soll ich in diesem Hof in einer südlichen Hafenstadt gewesen sein? Ist es ein Traumbild oder habe ich das in einem Film gesehen?
An manchem Morgen schrecke ich aus dem Schlaf und das Entsetzen packt mich. Mir sind plötzlich viele Jahre nicht mehr im Gedächtnis. Ich habe mein eigenes Leben vergessen. Ich bin viel älter, als ich geahnt habe. Tage und Jahre verschleimen zu einer diffusen, monotonen Masse. Diese Verwirrung verliert sich erst nach einiger Zeit. Ein Vorgeschmack vom endgültigen Verschwinden in der Geröllhalde des Vergessenen. Dann sind alle Erinnerungen verschwunden.

© 2021 Michael Wiedorn
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