Das Stadion im Schlaf (Fortsetzung)

Von Michael Wiedorn

Ein riesiger Frosch. Turnschuhe in zitronengelb und grasgrün lassen ihre Quanten weit über Schuhgröße 50 anwachsen. Die Seele dieser Gestalt liegt nicht in Herz oder Kopf, sondern in den Füßen.
„Stand by!“ Alle stellen sich hin, wie angewiesen. Verschiedene Fielmannbrillen verschwinden im Verborgenen. Gespräche werden abgebrochen. Es ist jetzt alles mucksmäuschenstill. Es geschieht nichts. Wir warten, aber wir warten in Habachtstellung. Eine stumme Erstarrung der Körper, die losrennen wollen. Zwei Techniker laufen nervös hinter unseren Rücken hin und her.
Was veranstalten die beiden? Dann wieder die Stille wie in der abgelegensten Wüste. Wir stehen und stehen. Nichts. Eine Stimme ruft: „Abgebrochen!“ Wir warten weiter reglos, aber langsam bewegen wir uns wieder wie einzelne Individuen mit eigenem Willen. Die Zeit vergeht nicht, sondern staut sich ranzig auf. Klebriger Stillstand. Tote Spinnen hängen erstarrt in einer rotzgelben Masse. Jede Minute besteht aus sechzig Sekunden. Jede Sekunde ist eine scharf abgesperrte Zelle mit dichten Mauern. Jemand schreit „Achtung“ und bevor sich irgendetwas rührt, kann die Welt mehrere Male entstehen und untergehen, können Weltreiche wachsen und untergehen, können Menschen gezeugt und geboren werden, ihr ganzes Leben durchstehen und im hohen Alter sterben. Wenn nur jemand Blut erbrechen würde, losschreien würde, die Erdkruste aufbrechen würde und Feuer speien. Wir Polizisten und Zivilisten stehen Spalier. Ein zarter, blonder Jüngling in modernem T-Shirt und Jeans läuft mit der olympischen Fackel an uns vorbei zum Heiligtum des Olymps. Die milde Sonne bestrahlt das klobige Mauerwerk, von dem bald das Blut des Fackelträgers rinnen wird. Das Blut unzähliger blonder Jungs. Das Gebrüll der Massen nach der Führerrede. Das Gebrüll wird immer lauter und lauter und entflammt zum Angstschrei.
Wer schreit, der lebt. Wer blutet, lebt. Die Granitdecke im Saal stürzt von Phosphorbomben entzündet auf die zu den verriegelten Ausgängen stürzenden Gästen. „Cut!“ ruft die Stimme. „Bitte wieder zum Anfang!“ Die Laufenden kehren zum Ausgangspunkt zurück. Der Stumpfsinn und die Starre gehen wieder von vorne los. Der Helm drückt. Das Kinnband kneift. Vielleicht werden mich die nächsten Tage Kopfschmerzen zersägen. Meine Kopfhaut ist ganz verspannt. Kopfbedeckungen hemmen der Gedanken Flug. Von hartem Stahl gefangen gehaltene Hirne sterben im Dunkeln ab. Soldaten landen nach dem Krieg in der Irrenanstalt.
Endlich sind wir bereit zum Drehen. Es wird jetzt ernst. Der Fackelträger trägt jetzt Turnhose und Trikot wie dereinst. Er ist drahtig, aber nicht wirklich athletisch. Er ist wie der nette Junge von nebenan. Der Held einer furchterregenden Kriegsmacht sieht anders aus. Sein Fackellauf wird unzählige Male und immer wieder und wieder unterbrochen und wiederholt. Das Leben besteht aus immer wiederholten und nochmals wiederholten Bewegungen und Gesten. Ein überflüssiger Leerlauf. Trocken ist der Staub und grau der Stein. Unendlich ist das unentwegte Treppenhäuser Hinaufsteigen und Herabsteigen. Unbegrenzt ist das Warten an der Supermarktkasse. Man stellt sich als ahnungsloses Kind an und findet, nachdem man bezahlt hat vor Altersgebrechlichkeit garnicht mehr zum Ausgang.
„Mittagspause“ – ruft der Regisseur. Ich spüre wieder Blut in meinen Adern. Es gibt ein konkretes Ziel, das es möglichst schnell zu erreichen gilt. Mein Schritt beschleunigt sich und raschen Schrittes überhole ich Leute, die sich dem Glück nahe fühlten. Sie hassen mich. Da scheint es einer eilig zu haben. Da glaubt einer beim Futternapf zu kurz zu kommen. In der Eile des Schrittes löse ich mich vom Erdboden. Vor mir erhebt sich das strahlende Weiß des Zeltes – das Ziel meiner Sehnsüchte. Im Zelt erwartet mich schon eine Schlange von etwa zwanzig Leuten. Wir sind elend und ausgehungert. Der Novemberwind stürmt durch die verschneiten Bombenruinen. Einst elegante und teure Kleidung hängt fleckbesudelt und löchrig an ausgemergelten Skeletten, die für Wassersuppe anstehen. Schnee bedeckt blanke Schädeldecken. Die vergammelten Kleidungsstücke erlebten auch den Sommer 1936. Den Sommer der sonnenstürmenden Athleten. Der Sommer in dem diese Wracks sich für Helden hielten. Sie stellten damals den Reichsadler dar. Das kräftige Leder, die Schulterriemen pressen meinen Rumpf zusammen. Das Leder ist aus den Häuten kräftiger Rinder. Stählerne Handschellen umschliessen gewalttätige Handwurzeln. Die Ledergamaschen glänzen und strahlen von tierischer Kraft. Ein Polizist zieht die Dienstwaffe und drückt ab. Der getötete Häftling trägt mein Gesicht. Ich nehme Plastikteller, Plastikgabel, Plastikmesser vom Tisch. Billig. Ich bin elend und ausgehungert. Ein bedeutungsloses Glied der Masse der demütigen Bittsteller, der dankbar ein trockenes Stück Brot Empfangenden. Vor mir warten noch zwei ältere Zivilisten auf Portionen aus der riesigen Gulaschkanone. Vor dem Suppenkessel sind alle gleich. Jetzt darf ich mein Plastikschälchen zum demütigsten Empfang meines Fraßes hinhalten. Ich bin der untertänigste, unterwürfigste, bescheidenste Bettler, der in gebückter Hingabe mit schüchtern hingehaltenem Töpfchen die gute Gabe empfängt. Zerkochte Makkaroni mit Fleischsauce. Hinter mir drängeln die anderen Hungergestalten nach. Die Welt des ruhmreichen Sommers ist längst zusammengebrochen.
Ich suche mit der gefüllten Schüssel einen Sitzplatz im schon längst überfüllten Zelt. Wir sind alle Flüchtlinge in einem weißen, kalten Provisorium. Die Gabel sticht ins Weiche und hebt es in meine Mundhöhle, wo es restlos im Dunkel meines Innenlebens verschwindet. Die Makkaroni zerfließen nicht. Das Fleisch leistet meinem Gebiss Widerstand. Der Leichnam des Tieres wehrt sich gegen mein Inneres und schmeckt deshalb um so besser. Mein Bärenhunger schlägt zu und ich fresse und schlinge und blicke weder nach links noch nach rechts. Um mich rauschen die Gespräche. Ich blicke kurz auf. Ein Junge in blütenweißem Anzug mit streng gescheiteltem Haar beobachtet mich mit scharfem Blick. Die Jugend lässt seine Augen strahlen. Das pechschwarze Haar ist vom Gel ganz hart. Abrupt wendet er seinen Blick von mir ab. Er stützt leicht verkrampft seinen linken Arm auf den Tisch, den Kiefer vorgeschoben wie ein Raubtier und spricht zu zwei Mädchen. Die Beine auseinander gespreizt und den Oberkörper vorgeschoben, als wolle er in die Mädchen eindringen. Ein Tier kurz vor dem Sprung. Die Muskulatur unter seinem Anzug dürfte zum Zerreißen angespannt sein. Eine Jungmännerstimme höre ich vorwurfsvoll sagen: „Wir spielen heute wieder die bösen Deutschen.“ Ein immer gleichmäßiges Gesprächsmurmeln wie das gleichmäßige Wogen an einem Ufer. Menschen liegen und kleben an Menschen. Wir sind Masse. Beine steigen über Beine. Bäuche reiben sich an Rücken. Endlose Menschenschlangen für das Futter, zum Scheißen. Ich stelle mich für eine zweite Portion an der noch immer kilometerlangen Schlange an. Ich fühle mich öde. Wir warten und sind zusammengepfercht. Das leblose Weiß der Zeltplane. Plötzlich überfällt es mich. Ich habe das schon einmal erlebt. Ich habe exakt die selbe Situation schon mehrmals erlebt und immer wieder und wieder. Mein Leben ist nicht schrecklich oder traurig, sondern nur ein Leerlauf. Ein gellender Schrei. Brennendes Rot tritt aus den sich auf der Zeltplane öffnenden Wunden – aus den unzähligen Wunden seines Körpers.
„Die Mittagspause ist zu Ende“ – ruft eine Stimme. Ich erhalte meine zweite Essensportion, setze mich irgendwohin und spachtle sie herunter. Alle bewegen sich dem Ausgang entgegen. Wir sind Schafe. Wir blöken. Einige bleiben noch sitzen und fahren in ihrer Pausentätigkeit fort. Andere greifen noch wie zum Trotz und um sich die eigene Individualität zu beweisen nach einer Zeitung oder einem Buch und fangen zu lesen an. Dann stehen sie doch auf – ganz langsam, um nicht vor sich selbst das Gesicht zu verlieren.
Das Nachmittagslicht strahlt und wir streben gemeinsam der Sonne entgegen. Vor uns das Tor aus Quadersteinen. Wir halten auf der weiten, gepflasterten Steinfläche vor dem Gitter, das uns vom Stadion trennt. Wir warten. Wir warten und niemand weiß, warum es nicht weitergeht. Die luftigen Strohhütchen der Sportlerdarsteller in ihren frühlingsbiütenweißen Anzügen drohen im Wind in den noch sommerlichen, hellblauen Himmel zu entfliehen. Weit, weit in die Lüfte entschwinden sie. Alles blau und blau und Licht und kein Boden. Ein harmloses, freundliches Hütchen dringt immer weiter in die Höhe vor.
Immer mehr Komparsen gehen zaghaft vorerst in die Hocke, bevor sie sich trauen, sich mit dem Hintern voll auf die nicht sauberen Steinplatten zu setzen, bekommen halt die strahlend weißen Hosenboden braune Ränder. Braune Flecken am Uniformarsch. Scheißbraune Uniformen marschieren unter blutenden Fahnen ins Stadion. Die schwarzen, zackigen Balken im keuschen Weiß stechen in lebendiges Fleisch. Der Schlamm saugt Männer ein und spuckt sie tot wieder aus.
Die Schiene für die Kamera wird aufgebaut. Die jungen Sportlerdarsteller in ihren unschuldig weißen Leinenanzügen flirten mit nordisch blonden BDM- Mädels über Bachelors, Hiphop, andere Drehs, sechzehn Stunden Stehen im Schneeregen. Wir warten wieder. „Zuschauer, Polizisten, Sportler – bitte, aufstellen!“ – ruft ein Komparsenagenturmitarbeiter. „Die Polizisten bilden an der Straßenkante eine Kette. Die Zuschauer drängeln sich dahinter.“ Wir stellen uns auf wie befohlen. Vorwärtstreibende, unruhige Volksmassen fluten gegen meinen Rücken und drohen mich mitzureißen. Viele Polizistendarsteller sind sind alte, dünne Männchen. Wir werden unbändige Begeisterung mimen! Brennende Fluten schwappen über den Asphalt, reißen die Körper mit, die sich in Feuerlohen verwandeln. „Action!“ Grämlich herabhängende Fressen beginnen auf Befehl schlagartig selig zu strahlen. Wenn später der Dreh abgebrochen wird, stürzen die strahlenden Gesichter zu Boden wie Masken im Wind. Die verzückten Augen eines Sportlers. Seine kräftigen Lippen glänzen. Die Polizei versucht eine Mauer gegen die tobenden Massen zu bilden.
Verbissene Altmännergesichter unter Polizeitschakos. Ihre Körper bäumen und krümmen sich. In der Überanstrengung verbeißen sich die Zähne des Kiefers in die obere Zahnreihe. Bösartige Kampfhunde. Ein blutjunger, hochgewachsener Bulle, dessen Leib gewohnt ist, dienstfertig strammzustehen, krümmt seinen Rumpf im Widerstand gegen die Masse wie eine zuschlagende Peitsche. Es sieht aus, als würde eine übermächtige Kraft seinen Oberkörper niederdrücken. Sein gewaltiger Adamsapfel hebt und senkt sich. Ein Bus aus den Dreißiger Jahren fährt vor und hält. Alle jubeln außer den Polizisten. Ein blonder Hüne steigt aus und winkt und strahlt dem Volk zu.
Siegfried der Held ragt in den Himmel. Seine weißen Zähne leuchten in der Sonne. Eine Stimme schreit: „Cut!“ Lachen und Jubeln stürzen von den Gesichtern wie schwere Steine. Die Jubelrufe verstummen abrupt. Wir können uns jetzt auf der uns zugewiesenen Stelle bewegen, wie wir wollen. Ich habe gehört, dass alle Bilder, die heute noch gedreht werden sollen, noch im Tageslicht erledigt werden müssen. Ich sehne mich nach der Stille der Nacht. Die Müdigkeit übermannt mich. Ein junger Polizist spielt neugierig an seiner Uniformmontur und zieht mit stolzem Lächeln den Revolver. Seine Waffe zielt auf mich.
Nachts sinken die schweren Quadersteine lautlos in sich zusammen. Geräuschlos wie fallende Federn. Schwarze Wogen übersät mit dem Funkeln der Sterne fluten warm und sanft über mich. Steinerne Krieger wachen am Rande einer schimmernd grünen Rasenfläche. Fließt das Gras?

© 2022 Michael Wiedorn
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