Das Stadion im Schlaf

Von Michael Wiedorn

Es ist tiefste Nacht. Ich drehe mich im Bett hin und her. Die Fluten von Traum und Schlaf ziehen mich immer wieder in die Tiefe. Ich muss um 5.30 Uhr – Punkt 5.30 vor dem Olympiastadion erscheinen. Die Pflicht ruft. Der Alltag ruft. Die azurblauen, smaragdgrünen Wogen der Nacht. 4 Uhr 47 fährt die U-Bahn vom Halleschen Tor ab. Bis Zoo braucht der Zug neun Minuten. Ich falle wieder in den Schlummer und döse und vielleicht schlafe ich auch. Man hat mich heute als Filmkomparse engagiert und ich eile und irre durch unterirdische Hallen mit kahlen Betonwänden. Ich renne so schnell durch die Korridore, dass ich mit den Füßen nicht den Boden berühre.
Unzählige Eisentüren. Ich öffne irgendeine der Türen und bin in einem anderen Gang mit zugeschlagenen Stahltüren. Ganz weit in der Ferne sehe ich junge Mädchen in Dirndln und Trachtenhüten, die sich einzeln in einer Art Tanz um sich drehen und wenden. Ihr Haar so blond und gar so blond, dass es künstlich gelb leuchtet. An den Schläfen ist es zu Knoten gebunden. Es ist völlig still, als hätte ich keine Ohren mehr. Die Gesichter der Mädchen sind bleich und Mund und Augen erschrocken aufgerissen. Eine ältere Frau in normaler Straßenkleidung gibt mir mit ihrem ausgestrecktem Arm Zeichen um Gottes Willen nicht näher zu kommen. Es besteht Lebensgefahr. Ich sehe auf die Uhr an der Wand. Vor drei Minuten hätte ich am Drehort, für den ich bestellt war, ankommen sollen. Ein langer und wirrer Rückweg durch ein unendliches Labyrinth steht mir bevor.
Ich öffne die Augen. Das Zimmer liegt im Dunkel der Nacht. Ich liege noch in meinem Bett. Einen aufblitzenden Moment lang packt mich die Angst meinen Termin endgültig versäumt zu haben und meine Finger tasten auf dem Fußboden vor dem Bett nach dem Handy. Auf dem Display lese ich 2.42 Uhr. Warum soll ich so früh auf die Straße? Das Olympiastadion ruht schweigend und leblos vor mir einsamem Zufrühaufsteher. Ich entscheide mich bis zum Weckerklingeln im Bett zu bleiben. Der Wecker ist auf 3.50 Uhr eingestellt. Jede Sekunde des Ruhens und Ausgestrecktdaliegens gibt dem Körper dringend benötigte Kraft wie die Batterie der Maschine. Ich werde heute einen harten Tag haben. Ich fließe weg in die Fluten, die mich sanft umschlingen. Alarm. Laut schrillt der Wecker. Ich bin wach und fühle mich, als hätte mich eine sich hochaufbäumende Welle tief runter auf eine Betonfläche geknallt. Es ist noch dunkel. Ich knipse die Stehlampe neben meinem Bett an und starre träge auf die grell beleuchteten Möbel im Zimmer. Die Müdigkeit droht mich in eine ohnmächtig vor sich hinglotzende Leiche erstarren zu lassen. Leichenstarre. Ich reiße mich mit einem Ruck aus der Lähmung.
Es herrscht jetzt die Wirklichkeit mit ihrer unerbittlichen Härte. Ich schalte das Radio an. Ja – das ist genau das Richtige. Geräusche halten mich wach. Es wird Schumann angesagt. Das nächtliche Klassikprogramm der ARD. Der Himmel draußen ist noch so schwarz, dass man es nicht fassen kann, dass es in nicht ferner Zukunft mal eine Morgendämmerung geben kann. Ich stehe auf, gehe in die Küche und blicke in die Teekanne, wieviel Tee von gestern noch übrig ist. Bis ich die Wohnung verlasse, brauche ich keinen neuen Tee zubereiten. Ins Zimmer zurückgekehrt sitze ich auf dem Bettrand und rasiere mich. Heilfroh bin ich, dass ich den Kampf gegen die mich immer wieder umschmeichelnden und wogenden und mich verschlingenden Brandungen und Wellen des Traumes gewonnen habe. Jetzt kann nichts mehr schiefgehen. Im Schneidersitz nehme ich den Rasierer aus der Schachtel, stecke das Kabel in die Steckdose.
Elektrische Kraft fließt. Das ist Technik, die sich nach den ehernen Gesetzen der Naturwissenschaften richtet. Das Reiben des Metalls an der Kinnhaut. Das ruhige und gleichmäßige Summen des Apparates. Das ist die Wirklichkeit. Ich muss mich heute exakt und präzise rasieren. Kein Härchen auf Kinn oder Backen darf stehen bleiben. Man hat mich als Polizist bei den Olympiaden von 1936 gebucht. Jawoll! Die Haut muss kahl wie die Asphaltfläche eines Kasernenhofes sein. Glatt wie ein Kinderarsch. Kinn und Schnauze. Ich eile in die Küche um die Zähne zu putzen und mein Gesicht zu waschen. Noch ist es warm in der Küche. Der Herbst hat erst vor wenigen Tagen begonnen. Ich ziehe eine gerade Linie Zahnpasta auf die Borsten. In wenigen Monaten wird die klirrende Kälte meinen Lebenswillen einfrieren. Eisblumen an den Fensterscheiben. Ich schrubbe meine Zähne, spucke das Wasser aus und seife mein Gesicht ein. Die kalte Frische des Wassers soll die letzten Reste des Gespenstischen vertreiben. Ich ziehe meinen Schlafanzug aus und wasche meinen Körper. Wasser und Seife reinigen mich von Schweiß, Traum und Schlaf. Der Waschlappen wischt immer wieder über die Haut wie der Staublappen über die Möbel. Weißer Schaum auf dem Frottee. Schweiß und Seife. Die an den Strand brandenden Wogen bilden weißen Schaum. Ich drehe den Wasserhahn zu und gehe gereinigt ins Wohnzimmer zurück. Die Nachrichten sind vorbei. Ich wollte noch den Wetterberichthören. Den ganzen Tag werde ich stehen und stehen und nochmals stehen. Die als Zivilisten eingekleideten Komparsen werden sich gemütlich und gelangweilt auf ihren Sitzen räkeln und uns treu – doofen Ordnungshütern lange Nasen drehen. Es wird heute sonnig und sehr warm werden. Ich werde in der Uniform schwitzen und der Stoff wird mich kratzen. Die rote und immer brennender rot werdende Haut wird gerieben bis blutende Wunden entstehen. Schusswunden.
Messerstichwunden. Hitze, Blut und Schweiß ziehen gierige Schmeißfliegen an. Ich ziehe Hose, T- Shirt und Jacke an. Ich ziehe meine Schuhe an. Schalte in allen Zimmern das Licht aus und verlasse meine Wohnung.
Die Treppe eile ich hinab und stehe jetzt im Hof. Mein Haus, in dem ich schon so lange wohne, habe ich noch nie in so abgrundtiefem Schwarz erlebt. In keinem einzigen Fenster ist Licht zu sehen. Existieren hinter den schwarzen Glasscheiben noch Räume? Alle Bewohner liegen reglos in ihren lichtlosen Zimmern. Durch die schwere Flügeltüre erreiche ich die mit Säulen geschmückte Eingangshalle des Vorderhauses, deren Mauern mit bröckelndem, braunem Verputz gestrichen sind, um durch eine andere Flügeltüre auf die Straße zu treten. Die Straße ist beunruhigend still. Die Stadt ist tot. Kein Auto, kein Fahrrad, kein Passant. Ich gehe die Straße lang. Die Lichter der Eckkneipe strahlen in der Nacht. Der heilige Tempel für einsame Säufer. Sie har 24 Stunden am Tag auf. Ein etwas beleibter Mann in mittleren Jahren und schweißfleckigem Sweatshirt hängt schlaff auf seinem Hocker, lehnt sich mit beiden Armen auf die Holzfläche der Theke. Der Mund in seinem prallen und schwarzbärtigen Gesicht ist leicht geöffnet. Der Mann braucht Luft. Er blickt auf die Serviererin, die sich gerade darauf konzentriert die Gläser zu spülen. Sie beachtet ihn nicht. Sie will ihn nicht beachten. Falls er etwas sagt, hört sie nicht zu. Sie ist jung und schlank und hat kastanienbraune Haare. Vielleicht würden ihr bei einem klaren Blick ganz aus der Nähe Furchen und Falten in die schlaffe Haut ausbreiten. Aus der verräucherten Holzvertäfelung und dem schmierigen Messing der Tresenstangen und Barhocker packte mich die Traurigkeit einsamer Trinker, die sich vor dem stillen Dunkel ihrer Wohnung fürchten. Meine Furcht, doch noch die richtige U-Bahn zu versäumen, zieht mich selbst- und pflichtvergessen in diese traurigste Kneipe um mir ein Bier zu bestellen. Noch ein Bier zu trinken und öde und kontaktlos mit dem fetten Säufer an der Theke zu sitzen. Später, wenn alles zu spät ist, werde ich sturzbesoffen und zerstört nach Hause torkeln.
In der immer noch finsteren Nacht gehe ich weiter meinem Ziel entgegen. In keinem einzigen Fenster der vielen Mietshäuser an der Straße brennt Licht. Die Straßenlaternen leuchten. Die vom Licht angestrahlten, schwarzen Hausmauern sind Grabmäler der lebendig in die Häuser begrabenen Bewohner. Ein altes Fenster mit bröckelndem Holzrahmen und von Dreck blinden Scheiben ist der Eingang zur gähnenden Leere. Die Leuchtreklame der billigen Spielkasinos blinkt rot auf. An und aus. Aus und an. Überbleibsel längst vergangenen Vergnügens. Eine Stadt nach einem Gasangriff. Eine Stadt während einer schweren Seuche oder unmittelbar vor einem schweren Erdbeben. Alle Einwohner sind evakuiert. Wie lange blinkten und strahlten um Fukushima herum die Leuchtreklamen nach der Katastrophe? Sirenen heulten in den Nächten des Zweiten Weltkrieges. Es dröhnt. Es pfeift in der Luft. Festgebaute, stabile Häuser sacken auf einmal mit Ohren zerberstendem Krach in sich zusammen. Die Straßen brennen.
Der Bäcker hat jetzt natürlich geschlossen. Ich habe Hunger und überquere die Blücherstraße, überquere den kleinen Park bei der Amerika-Gedenk-Bibliothek und sehe die hellerleuchtete U- Bahnstation. Die eine U-Bahnlinie ist hier eine Hochbahn. In der Unfallnotaufnahme leuchtet die ganze Nacht über das hellste Licht. Tod und Krankheit schlafen nie und suchen sich rastlos immer neue Opfer. Es wird noch lange dunkel bleiben. Wann kommt der Tag, an dem es nicht mehr Tag wird? Die Temperatur auf der Erde wird in die Keller stürzen. In die Eiskeller. Die letzte Nacht kann in den heißesten Hochsommer fallen, aber der Schnee wird still und unerbittlich fallen. Das weiße Laken wird alles Leben ersticken.
Der Dönerladen ist offen, aber ich habe keine Lust auf Döner als Frühstück. Ich fahre die Rolltreppe hoch und meine das Donnern und Grollen einer einfahrenden U-Bahn zu hören. Vielleicht werde ich die U-Bahn versäumen und zwanzig Minuten zu spät beim Dreh erscheinen. Bevor ich den Bahnsteig betrete, versperrt mir eine Holzwand die Sicht. Es wird hier gebaut. Ich gehe die Bretterwand entlang, bis der Blick auf das Gleis wieder frei ist. Die U-Bahn ist noch nicht angekommen und ich atme auf. Ich setze mich hin und ziehe meinen Roman aus der Jackentasche. Das Totenfest. Ein schwarzer Sarg wird in die Ausschachtung gesenkt. Blumen liegen auf dem Sarg. Sie werden verwelken. Die feuchte Erde wird das Holz zernagen. Die modrige Erde und die Würmer werden die fülligen Lippen, die klaren, männlichen Gesichtszüge verwandeln, zerfressen, verschandeln. Der schöne Tote verwandelt sich in ein Ungeheuer, bevor er sich in ein Skelett verwandelt. Die Blumen duften atemabtötend. Das Olympiazentrum ist mein Ziel. Das Totenfest. Totenburgen zu Ehren der Gefallenen. Wimmelnde Würmer verzaubern, verspeisen, zerstören die harten Muskeln der Krieger. Totenburgen, deren wuchtige Quadersteine jede lebendige Regung ersticken. Ein blutdurchströmter Mensch, der sich bewegt und schnauft, wird lebendigen Leibes eingemauert. Vom Stein erstickte Schreie. Ich öffne das Buch und lese.
Ein junger Widerstandskämpfer fällt im Kampf. Sein Geliebter, der die Geschehnisse im Roman erzählt, verliebt sich in den Mörder seines Freundes – in einen Feind, der das Land, für das der Freund gestorben ist, niederhält. Der SS-Soldat Erik.
Die U-Bahn fährt ein. Ich versuche möglichst vorne einzusteigen. Ich weiß nicht warum. Es ist Gewohnheit. Die Wägen sind um diese Zeit fast leer. Für Putzfrauen und Arbeiter ist es noch zu früh. Ein besoffener Junge um die Zwanzig sitzt in einer Ecke der Sitzbank. Er hat seine Schuhe ausgezogen und nickt immer wieder ein. Ich vertiefe mich wieder in mein Buch. Draußen ist es noch dunkel. In der frühesten Morgendämmerung begegnet der taufrische Hitlerjunge Erik dem Henker von Berlin im Tiergarten. Das Gras ist noch taufrisch. Das Morgenlicht ist noch fahl. Das Leder von Schulterriemen und Koppel knirscht, während dem der Hitlerjunge den Henker stößt. Die U-Bahn fährt nach Gleisdreieck in einen Tunnel. Der Zug rattert. Der unter dem Stein Begrabene tastet sich vorwärts im Dunkeln. Er ist durstig und hungrig. Er kriegt keine Luft. Am zugemauerten Eingang zum Grabmal wachen zwei zu Granit erstarrte Soldaten.
Die Türe der U-Bahn öffnet sich und eine Frau steigt ein und setzt sich auf die Sitzbank gegenüber dem barfüßigen Jungen. Sie fährt wohl zur Arbeit oder hat die Nacht in einem fremden Bett verbracht. Was geht mich das eigentlich an? Der Junge hat eine sehr grobe und harte Visage. Das Leder von Schulterriemen und Koppel knirscht. Der Barfüßige studiert sicher nicht und arbeitet auch nicht im Büro. Er ist Maurer. Er ist Arbeiter. Hartes Gesicht und sonnengebräunte Haut. Er ist arbeitslos und bezieht Hartz IV. Wittenbergplatz.
Ich steige aus und könnte etwas zum Essen vertragen. Der Bäcker auf dem Bahnsteig hat schon auf. Der Zug zum Olympiastadion fährt schon ein. Ich kaufe nichts, steige in den Zug ein, setze mich und schlage den Roman auf. Das eiskalte Lächeln der Mutter des gefallenen Widerstandskämpfers. Die Bahn fährt los. Der Milizsoldat – der Landesverräter, der Mörder, der Abschaum aus dem dreckigsten Bodensatz der Gesellschaft – steckt in einem glatten, harten Lederpanzer. Er wurde in ein Kampfreptil verwandelt. Bei der Anprobe für den Film legte man mir ein Koppel und Schulterriemen an. Das Koppelschloss schließt meinen Rumpf in die staatliche Ordnung ein. Die Gedärme haben keine Möglichkeit vom Körper Reißaus zu nehmen. Hinter den festen Mauern stauen sich die Fluten giftiger Flüssigkeit. Um die Waden zog man mir Gamaschen aus dickem Leder an. Hinter dem Leder stauen sich Schweiß und Blut. Der Schweiß deutscher Polizisten.
Zoologischer Garten. Ernst-Reuter-Platz. Die Türen der Bahn öffnen sich. Blau-grün gekachelte Wände. Zu anderen Tageszeiten strömen hier Menschenmassen in die Bahn hinein, aus der Bahn heraus. Der Bahnsteig ist menschenleer. Die Stadt ist vor der großen Gefahr evakuiert worden. Es geht weiter. Deutsche Oper. Sophie-Charlotten-Platz. Kaiserdamm. Theodor-Heuss-Platz. Mir gegenüber sitzt ein Inder. Ich habe ihn noch nie gesehen, kann mir garnicht vorstellen, dass ich ihn jemals gekannt haben könnte. Wir fahren in eine menschenleere, überdachte Station.
Olympiastadion. Es ist immer noch Nacht. Der Inder steigt aus. Er grüßt mich. Ich grüße aus Höflichkeit zurück, ohne die geringste Ahnung, woher ich ihn kenne. Jetzt kommt mir sein Gesicht bekannt vor. Wir rätseln herum von welchen anderen Drehs wir uns kennen. Auf dem Bahnsteig laufen noch andere Leute dem Ausgang entgegen. Sie alle haben das gleiche Ziel. Um den Bahnhof herum gibt es keine Betriebe, keine Baustellen, keine Wohnblocks. Es gibt hier nur das Stadion und viel Grün. Eine dunkle Fußgängerunterführung. Das einsame Gesträuch zu Seiten des asphaltierten Weges. An sonnigen Samstagnachmittagen grölen hier die fußballbegeisterten Massen. Unter dem Betongewölbe dröhnt das Gebrüll. Die Erde um die Büsche und die Bäume verwandelt sich unter der Pisse der Betrunkenen in Sumpf und Schlamm. Die aufgeweichte Erde entlässt längst aufgelöste Körper. Die Vergangenheit lebt hier. Die Schatten und Ruinen einer untergegangenen Stadt. Berlin brannte im Krieg. Hamburg! Dresden! Im Feuerschein zusammenstürzende Fassaden erschlagen fliehende Menschen. Menschen unter der Erde. In den Stadien werden Feste mit Tausenden und Abertausenden Gläubigen gefeiert. Es sammelt sich der Schweiß an den Achseln der Hertha-Fans.
Der Eingang des Olympiastadions. Ein großes, weißes Zelt. Hier strahlt im nächtlichen Dunkel helles Licht. Hier lebt das lärmende Leben. Das Zelt quillt von unzähligen Menschen über. Ich werde heute den ganzen Tag keinen einzigen Augenblick in Einsamkeit und Ruhe verbringen. Eine Menschenschlange steht für Kaffee an. Eine Menschenschlange steht an um eingekleidet zu werden. Eine Menschenschlange steht zwischen gefrorenen und verschneiten Kriegsruinen an um sich Wassersuppe zu holen. Ein Mensch das 21. Jahrhunderts verschwindet in der Kostümabteilung und erscheint wieder als Untertan des Dritten Reiches. Kaum war ich angekommen, rief jemand: „Alle Polizisten nach vorne zum Kostüm!“ Ich gehe zum Kostümeingang. Drei oder vier junge Komparsen stehen schon bereit zum Empfang der Uniform. Ein Fräulein vom Kostüm empfängt uns und geleitet uns in den hinteren Raum des Zeltes. Der EDV-Fachmann, der Jurastudent, der Hartz IV- Empfänger in Jeans und Turnschuhen mit Basecap streifen mit ihrer Privatkleidung ihr Ich ab und gleichen sich mit jedem Stück Uniform einander an. Im Stadion stehen Reihen hinter Reihen von Polizeibatallionen. Wir stehen unserem Kameraden gegenüber und stehen uns selbst gegenüber. Jeder ist der exakte Spiegel des Anderen.
Fabrikware. Handhabbar. Immer bereit! Die Frauen vom Kostüm rüsten mich ein. Schulterriemen, Koppel, Gamaschen. Ein verhärteter, alter Mann erscheint hinter mir für die Einkleidung. Eine rohe, bösartige Steinfresse. Kleine, eisgekühlte Augen blitzen mich aus einem zur Betonmaske erstarrtem Gesicht an. Beim Zuschlagen zeigen seine Augen keine Regung. Der reglose und undurchdringliche Blick einer uralten Echse. Zum Polizeidiener verzaubert stelle ich mich bei der Schlange für das Frühstück an. Die Stimmung im Zelt ist unangenehm. Eine weiße Zeltplane, unbequeme Bierbänke. Zu viele Leute wuseln sich auf zu wenigen Sitzgelegenheiten. Eine lärmende Triebigkeit ohne Leben. Wir sind müde. Im Knast werden am frühen Morgen die Zellentüren aufgeschlossen. Niemand fühlt sich hier heimisch. Bleiche, schläfrige Häftlingsgespenster. Es erwartet sie ein Tag so grau und trostlos wie unzählige Tage vorher und nachher. Einige Komparsen lehnen sich mit dem Oberkörper über die Tischplatten und versuchen zu schlafen. Abends ist wieder Einschluss in die Zellen. Ich gieße mir Kaffee in den Plastikbecher. Ich betrachte misstrauisch das Brot und das blasse Rosa der Wurst auf der Platte und fühle meinen Magen sich mit ranzigem Fett verstopfen. Der Ekel betäubt meinen Hunger. Ich suche irgendwo einen Sitzplatz auf einer der vielen Holzbänke. Ich quetsche mich zwischen einen älteren Herrn – weiß und faltig wie dem Grabe entstiegen – in einem Straßenanzug aus den Dreißiger Jahren und einem blondbezopften Mädchen im Dirndl wie vom Obersalzberg, ganz vertieft in sein Smartphone. Meine Hose spannt. Sie ist zu kurz und zu weit. An den Schultern kneifen die Hosenträger. An den Fersen ziehen die Bänder. An den Waden unter den Gamaschen schwitze ich. In Uniform ist es unbequem sich hinzufläzen, wie ich es gewohnt bin. In Uniform steht man dienstbereit stramm. Vielleicht sollte ich mich zu einer Holzpuppe versteifen.
Die Stimme eines Mitarbeiters der Castingagentur versucht sich verständlich zu machen. Niemand versteht ihn. Viele Komparsen stehen in größeren Gruppen auf und begeben sich zum Ausgang des Zeltes. Ich stehe ebenfalls auf und begebe mich jetzt ins Freie.
Der Tag hat jetzt ernsthaft begonnen. Es strahlt die kühle Morgensonne. Vor uns erhebt sich das Olympiastadion. Schwere und grobe Steine. Steine durchschlagen die Schädeldecke. Die Tempel und Burgen von Mykenä. Der Bürger – nein, der Untertan – fühlt sich klein und nochmals klein. Ein Steingebirge bricht über meinem gebrechlichem Körper zusammen. Soll man es mögen sich klitzeklein und ohnmächtig zu fühlen? Eine Blutrinne zwischen zermalmendem Stein. Der bleiche Führer musste sich von frischem Leben ernähren.
Ich fürchte mich vor dem Tag. Stehen, stehen und stehen. Irgendwann am Nachmittag wird mich die Müdigkeit überfallen. Vor dem Tor zum Stadion werden wir in zwei Reihen vom Tor aus die Treppe abwärts aufgestellt. Wir bilden ein Spalier. Vorne die Polizisten. Wir stehen jetzt bereit zum Proben. Wir wissen nicht, was im Führungsstab verhandelt wird. Wir sind Spielfiguren. Wir warten und wissen überhaupt nicht, worauf wir warten. Es geschieht nichts. Die Reihen werden umgestellt. Jeden Moment wird die Probe beginnen. Jedes Glied unseres Körpers steht bereit und der Moment zieht sich hin und wieder hin. Wie lang sich ein Augenblick hinziehen kann. Wir stehen starr und still wie tote Gegenstände. Wir werden in der Pose rettungslos versteinern und nichts wird uns jemals aus der Starre erwecken können. Grau klebrige Langeweile. Ich reiße mich aus der Starre eines zuhandenen Dinges und drehe mich unbefugt um, um die Kostüme der mich umgebenden Komparsen zu betrachten. Ich mustere sie vom Scheitel bis zur Sohle. Alles Werkzeuge, Möbel, Instrumente. Die Angeblickten blicken nicht zurück.
Wieder wird nicht geprobt. Einige Polizisten und Passanten werden auf die andere Seite gestellt. Nachdem sie sich an ihren neuen Platz gestellt haben, gefrieren sie wieder in der Ödnis der angespannten Langweile. Techniker legen Kabel, schalten irgendwelche Apparate und Maschinen aus oder ein. Eine grandios verfettete Technikerin mit spiegelblank geschorenem Schädel, ihre Fettmassen in ein türkisfarbenes T-Shirt gequetscht und in grasgrüner Jogginghose fuhrwerkt herum. Eine dicke Hornbrille auf der Nase. Sie ist ein Frosch.

(Die Fortsetzung der Geschichte folgt auf der nächsten Seite)

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