Von Michael Wiedorn
Ich betrete spät abends meine Wohnung und erschrecke. Die Glasscheibe des Porträtfotos über der Kommode ist eingeschlagen. Mein Gesicht, das auf der eingerahmten Photographie abgebildet ist, ist in spinnenähnlich angeordnete Fragmente zertrümmert. Mir bleibt das Herz stehen. Wer war in meiner Abwesenheit in meiner zugesperrten Wohnung. Ich habe einen Feind. Vielleicht ist er noch hier? Er muß einen Schlüssel gehabt haben. Die Wohnungstüre war nicht aufgebrochen, sondern ordentlich abgeschlossen. Ich starre wieder auf das Bild. Gibt es klare Hinweise, daß es von selbst zerbrochen ist? Vielleicht haben sich die Leisten des Rahmens verschoben? Statt meines Gesichtes sehe ich nur das Gefunkel der noch notdürftig ineinander gefügten Glassplitter, die in der Mitte zu einem dunklen Fleck zusammen laufen wie zu einer wundenähnlichen Mundöffnung. Nur der Hausmeister hat noch einen Schlüssel zur Wohnung. Ich versuche den genauen Ablauf des Tages nachzuvollziehen. Jede einzelne Minute. War jemand Auffälliges im Treppenhaus? Gab es verdächtige Geräusche, die ich nicht ernst nahm? Ich fühle mich hier nicht mehr zu Hause. Ich stelle das Radio an und suche Ablenkung und starre trotzdem immer wieder auf die zerstörte Scheibe. Dabei ziehe ich mich aus und lege mich ins Bett. Nach einigem Zögern schalte ich das Licht aus. Schlaflos wälze ich mich im Bett hin und her. Schatten und Lichtgeflacker von der Straße huschen über das Zimmer. Auf dem Holzfußboden im Flur höre ich Schritte und falle wieder in den Schlaf. Ich falle ins Dunkel. Wer hat denn jemals vor mir in dieser Wohnung gelebt? Ein schweres Atmen. Atmen die Mauern und beobachten mich dabei?
Mein Lauschen versucht bis in die letzten Winkel der Decke zu dringen – bis in die Ritzen der Steine und der Holzbohlen des Bodens. Das Atmen verstummt. Jemand ist da. Ich bin gelähmt und habe nicht die Kraft auf zu stehen. Ich stürze wieder in die dunkle Tiefe der Betäubung.
Plötzlich strahlt die Glühbirne an der Decke. Müde blicke ich zum Licht an der Decke. Ich kämpfe mich hoch vom Bett und erhebe mich zur Zimmerbeleuchtung. Immer weiter hoch. Ich wachse. Mein Gesicht schmerzt und ist klatschnass.
Jemand rüttelt mich am Arm. Ich blicke in das brave Gesicht des alten Hausmeisters und fühle mich ihm ausgeliefert. Es ist schon längst heller Tag und ich sitze auf den Stufen des Treppenhauses. Meine Wohnungstüre ist sperrangelweit geöffnet. Was ist los? Was ist geschehen? Ich müßte doch schon längst bei der Arbeit sein. Der Hausmeister glotzt mir teilnahmslos ins Gesicht. Hält er mich für betrunken? Es ist mir plötzlich, als hätte er mich die ganzen Jahre lang gefangen gehalten und ich habe nie etwas bemerkt. Ich stehe mühsam wie ein Greis auf und versuche so höflich es geht ihm klar zu machen, daß er mich in Ruhe lassen soll. Er soll abhauen. Mein Gesicht schmerzt tierisch und etwas fließt. Ich laufe die Treppe hoch und betrete vorsichtig meine Wohnung. Die Einrichtung ist vollständig zertrümmert. Hat hier ein Wahnsinniger getobt? Schubladen sind aus den Kommoden gerissen und der Inhalt ist auf dem Boden zerstreut. Tische und Stühle sind in kleine Holzstücke zertreten. Ich erinnere mich an die letzte Nacht voll Dämmern und Angst. Die Splitter der zerschlagenen Glasscheibe über meinem Porträt sind aus dem Rahmen gefallen. Aus dem Bild blickt mir sein Gesicht entgegen. Meine eigenen Gesichtszüge zeigen den Fremden.
© 2022 Michael Wiedorn
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