«Guten Tag. Ich bin Sofie. Ein kleines Hundemädchen, das sein beschauliches Hundeleben geniesst. Ein nettes Frauchen und ein ebensolches Herrchen schauen zu mir. Im Napf hat es immer genug Fresschen und an Streicheleinheiten fehlt es auch nicht. Aber Hand aufs Herz, unter uns gesagt, manchmal frage ich mich: Ist dies wirklich das höchste der Gefühle? Echt. Ich kann es nicht anders sagen: Manchmal ist es zum aus dem Pelz fahren. Dann bin ich ganz konfus. Es verschlägt mir den Appetit, ich mag nicht mehr Gassi gehen, mag überhaupt nichts mehr. Dann muss ich mich einfach hinlegen und nachdenken. Vorzugsweise auf dem Sofa. Das darf ich nämlich. Oder noch lieber bei Frauchen oder Herrchen auf dem Schoss. Der bevorzugte Aufenthaltsort für einen Bolonka Zwetna, genau gesagt, ein Цветная болонка, Zwetnaja Bolonka, wie buntes Schosshündchen auf Russisch heisst.
Dann liege ich einfach da, lasse die Seele baumeln und schlafe darob ein.
Und dann kommt er. Immer wieder der gleiche Traum, der mir wie durch das Maul gezogener Speck Hoffnung macht – oder auch nur vorgaukelt – in meinem Leben den Zenit noch nicht erreicht zu haben.
Ich weiss gar nicht, ob ich das überhaupt will. Um dies entscheiden zu können, sollte ich den Traum erst mal zu Ende träumen. Was mit bis jetzt verwehrt blieb. Frauchen oder Herrchen stupsen mich immer an. Ich sei unruhig, zapple, knurre und schnappe sogar. Da verliere ich natürlich den Traumfaden. Aufgewacht erinnere ich mich nur schwach. Alles liegt hinter einer Nebelwand verborgen.
Das Ganze muss sich in einem fernen Land abspielen. Es ist Winter und eisig kalt. Eine skurrile Welt. Unzählige Diener wieseln dienstbeflissen durch lange Korridore eines riesigen Palastes. Vorbei an hohen, weissen Säulen verschwinden sie durch grosse Portale in grossen Sälen. In diesen sitzen vornehm gekleidete Herrschaften tafelnd an langen Tischen oder sitzen im Halbrund um ein Cheminée. Vor diesem liegen grosse Hunde. Die Damen kraulen auf ihren Schössen die Kleinen. Hey, solche, wie ich einer bin.
Die Idylle ist trügerisch. Unruhe und Anspannung liegen in der Luft. Immer wieder ist Lärm zu hören, Krach, Radau, manchmal sogar Schüsse. Dann tritt eine gespenstische Gestalt in Erscheinung. Ein Stakkato von Blitz und Donner folgen. Draussen, auf einer Anhöhe jault kläglich ein grosser Hund. Dann ist Ruhe.»
…
„Krümel!»
«Ups, das ist Herrchen. Der nennt mich so. Als Kosename. – Was ist denn mit dem los? Will der noch einmal raus? Um diese Tageszeit? Jetzt ist doch Kuschelzeit vor dem Fernseher. Aber, da kommt er schon – im Wanderoutfit – und der Leine in der Hand. Da hilft nur eines: Augen zu.»
«Komm Krümel, stell dich nicht so an! Wir gehen noch einmal los. Heute ist ein besonderer Tag. Schau, Frauchen kommt auch – hoch, auf die Beine, hopp, hopp, hopp.»
…
Eine ganze Völkerwanderung ist unterwegs. «Uff, geht das aufwärts. Und die Dämmerung bricht an. Die Mühe soll sich lohnen. Von diesem Hügel aus könne man ein seltenes Ereignis mitbekommen. Die Konjunktion von Jupiter und Saturn, welche sich zu einem Weihnachtsstern verbinden.
…
Tatsächlich, ich kann mich des Eindrucks auch nicht erwehren, dass etwas in der Luft liegt.»
Trippel, trippel, trippel – hechel, hechel, hechel.
«Endlich, geschafft – tatsächlich, welch ein Ausblick. Aber, wer steht denn dort vorne auf dem Grat?»
Schnüffel, schnüffel, schnüffel.
«Wuff, wuff, mein Miskha! Nichts wie hin. Aber, was ist denn das für ein gleissendes Licht?»
Holterdiepolter …
«Hiiiiilfe, ich werde ohnmächtig.»
Plumps.
…
Wo bin ich denn? Ich stehe vor dem Palast aus meinen Träumen. Aber, ich bin ja ein Mensch, eine Frau … Da kommt einer der Diener auf mich zu. Die Augen niedergeschlagen. Jetzt verbeugt er sich gar.»
«Prinzessin Sofia, Kaiserliche Hoheit, folgen Sie mir bitte, Ihr Vater wünscht Sie zu sprechen –
ähm … wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf – ihre Majestät, der Kaiser ist sehr aufgebracht.»
«Majestät, Kaiser?»
Stirnrunzeln.
…
«Ihre Majestät, Vater …»
«Steh auf, schau mich an, ich muss mit Dir reden. Dieser unsäglichen Liaison muss unverzüglich ein Ende gesetzt werden.»
«Ihre Majestät, Vater …»
«Kein Widerspruch. Ab sofort triffst du diesen Rebellen nicht mehr. Ich bin zu tiefst enttäuscht, dass du deiner Herkunft nicht mehr Respekt zollst. Ohne zu zögern habe ich dich in den Palast bringen lassen, als ich vernahm, dass 1891 auf der Rückkehr von meiner Weltreise meine Jugendsünde im fernen Sibirien nicht ohne Folge geblieben sei. Neben deinen vier grossherzoglichen Halbschwestern und dem Zarewitsch Alexei nahmen ich, Kaiser Nikolaus II, und deine Stiefmutter, die Kaiserin Alexandra Fjodorowna, dich im Kreise unserer Familie auf. Und, wie dankst du mir das, deinem Vater? Verstehst du denn nicht, was es bedeutet, von Gottes Gnaden in ein kaiserliches Haus geboren zu sein? Anscheinend nicht! Denn du machst dich mit diesen Aufwieglern, diesem Pöbel, gemein. Hast du vergessen, dass diese Brut deinen Grossvater, Kaiser Alexander II schädlich ermordet hat? Da hätte ich dich ganz gut bei deiner Mutter in Komsomolsk lassen können.»
«Ihre Majestät, Vater … mit Verlaub, Sie tun mir unrecht. Wie sollte ich nicht von ihrem grossen und gütigen Herzen wissen. In untertänigster Weise bin ich Ihnen, meinem Kaiser und Vater dankbar, was Sie für mich getan haben und noch tun werden. Aber sehen Sie diese grosse Not im ganzen Lande nicht. Unaufhaltsam ziehen endlose Züge verarmter und hungernder Bauern mit ihren Familien in die Städte, wo aber schon die Lage der Arbeiter in den Fabriken katastrophal ist. Und wenn diese Armen sich zu Wort melden, wird neustens gar auf sie geschossen. Ja, und einer von diesen ist Mischka, den ich liebe. Es fliesst halt nicht nur kaiserliches, sondern auch Arbeiter- und Bauernblut in meinen Adern. Aber es ist ungerecht, diese armen Menschen mit Mördern und Terroristen wie Narodnaja Wolja, welche Grossvater auf dem Gewissen haben, in einen Topf zu werfen …»
«Rrrraus, tritt mir nie mehr unter die Augen – Kaiserliche Garde – abführen!»
…
«Grigori Jefimowitsch Rasputin, was tun den Sie hier in diesem Loch?»
«Psst … Prinzessin Sofia, der Kaiser liess auch Mischka ins Gefängnis werfen. Ganz sicher wird er in den nächsten Tagen hingerichtet werden. Und vielleicht auch Sie. Nun habe ich mit der Kaiserin gesprochen. Vielleicht wäre dies ein Ausweg …»
Wisper, tuschel, flüster …
Nachdenken – Kopfnicken.
«Sind sie sicher, Prinzessin?»
«Besser als erschossen werden.»
«Dann bis morgen, zum Frühstück. Adieu.»
«Adieu.»
…
«Gut sehe ich dich noch, mein lieber Mishka. Jetzt scheinen sich unsere Wege definitiv zu trennen. Immerhin hatten wir noch gemeinsame Monate im kaiserlichen Salon. Du als grösster, stolzester und schönster Barsoi vor dem Cheminée. Wie gerne habe ich dich als Knuddel-Bolonka vom Schoss von Grossfürstin Anastasia angeschaut. Seit sie dich mit deinen Artgenossen aus dem Haus gejagt haben, überstürzen sich die Ereignisse. Die russische Revolution ist in vollem Gange. Der Kaiser hat abgedankt. Die ganze Familie soll nach Petrograd zurückkehren und dort unter Hausarrest gestellt werden. Ich muss Anastasia dorthin begleiten.»
«Geh nur. Auf Wiedersehen, meine Kleine – die Hoffnung stirbt zuletzt.»
…
«Sofie, wo bist du? Sei brav und komm zu Herrchen.» Zum Glück, da kommen eine Frau und ein Mann. «Guten Abend, wir vermissen unseren kleinen Hund, können Sie uns möglichweise helfen?»
«Aber sicher … wollen wir uns vielleicht dort auf die Bank setzen? Es wird vermutlich etwas dauern …»
© 2022 Hans Peter Flückiger
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