Der Vermisste

Von Johannes Morschl

An einem Dienstagmorgen im August hatte der dreißigjährige Berliner Schriftsteller Peter Zack unmittelbar nach dem Aufwachen das unheimliche Gefühl, sich selbst entlaufen zu sein, so als wäre ihm der Hund oder die Katze entlaufen. Es handelte sich aber nicht um einen Gedächtnisverlust. Er wusste noch seinen Namen, sein Alter, seine Adresse, und er konnte sich auch noch nur allzu gut daran erinnern, dass ihm vor zwei Monaten Juana, seine spanische Freundin entlaufen ist, weil sie sich in einen buddhistischen Exilösterreicher mit dem bescheuerten Vornamen Attila verknallt hatte. Nein, das Gedächtnis war nicht Zacks Problem. Sein Problem bestand vielmehr darin, zwar da, aber gleichzeitig verschwunden zu sein. Er war äußerst beunruhigt über diesen Zustand und beschloss, einen Psychoanalytiker aufzusuchen, der seine Praxis gleich um die Ecke hatte. Der Psychoanalytiker hieß Dr. Alexander, und dies auch mit Vornamen, also Dr. Alexander Alexander. Zack rief ihn an und bekam noch für denselben Tag einen Termin, da ein Patient kurzfristig abgesagt hatte.

Zack konnte den Termin kaum erwarten. Innerlich durcheinander und doch auch voller Hoffnung lief er zu Dr. Alexanders Praxis. Die Haustür und die Eingangstür zur Praxis, die sich im 1. OG befand, gingen per automatischen Türöffner auf. Zack betrat den Vorraum der Praxis, in dem ein paar Stühle standen. Die Tür zum Behandlungsraum, an der ein Schild mit der Aufschrift Bitte nicht stören! hing, stand einen Spalt breit offen. Er klopfte an, doch drinnen blieb es still. Vorsichtig betrat er den Behandlungsraum. Dieser war mit einer Couch und einem breiten schwarzen Ledersessel ausgestattet. Über der Couch hing ein großes Poster, auf dem Sigmund Freud zu sehen war, stehend in grauem Anzug, mit ernstem skeptischen Blick und lässig seine obligate Zigarre zwischen den Fingern der rechten Hand haltend. Im schwarzen Ledersessel saß ein kleiner rundlicher Mann um die Sechzig, der tief und fest schlief. Zack dachte, das könne nur Dr. Alexander sein. Er weckte ihn behutsam und stellte sich vor. Dr. Alexander gähnte und entschuldigte sich bei Zack, weil er dessen Kommen nicht bemerkt hätte. Er müsse bei seinem letzten Patienten eingeschlafen sein, und der wollte ihn wohl nicht wecken, als er ging. Dann bat er Zack, sich auf die Couch zu legen und frei zu erzählen, was ihm gerade in den Sinn käme. Zack schilderte ausführlich sein Problem und die damit verbundene schreckliche Angst, sich für immer verloren zu haben. Er hoffte, dass Dr. Alexander etwas Schlaues und Hilfreiches dazu sagen könne, aber der fragte nur ab und zu: „Was fällt Ihnen dazu ein?“ Ansonsten schwieg er beharrlich. Die auf eine Stunde befristete Sitzung war bereits fast um, als Dr. Alexander einschlief und im Schlaf murmelte: „Alexander, wie geht es Alexander?“ Kaum hatte er dies gemurmelt, tauchte wie aus dem Nichts der entlaufene Zack auf, stürzte sich auf Dr. Alexander und begann ihn zu würgen. Entsetzt sprang Zack von der Couch und versuchte den anderen Zack von Dr. Alexander wegzuzerren. Da ließ der andere Zack von Dr. Alexander ab und verschwand wieder, so als hätte er sich in Luft aufgelöst. Zack blickte verwirrt und besorgt auf Dr. Alexander, der aber friedlich weiterschlief, so als wäre nichts geschehen. Schnell verließ Zack die Praxis. Einerseits fand er es unmöglich, dass Dr. Alexander eingeschlafen war. Nie wieder würde er zu ihm gehen. Andererseits war aber immerhin der verschwundene Zack kurz aufgetaucht. Doch wie gewalttätig der war! Zack grübelte: „Ist das bei mir wie bei Dr. Jekyll in der Erzählung The strange case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde von Robert Louis Stevenson? Bin ich wie der ehrenwerte, allseits geachtete Dr. Jekyll in eine zweite, bösartige Persönlichkeit, in einen Mr. Hyde gespalten? Nein, das kann nicht sein. Auch ich war enttäuscht und verärgert, weil Dr. Alexander eingeschlafen ist, aber ich wäre deshalb nie und nimmer handgreiflich gegen ihn geworden. Doch wohin bin ich wieder verschwunden? Vielleicht sollte ich es mit einer Vermisstenanzeige bei der Polizei versuchen.“

Am nächsten Morgen begab er sich aufs nächste Polizeirevier, um sich als vermisst zu melden. Der schon etwas ältere Beamte, der die Vermisstenanzeige aufnahm, sah grau und müde aus. Er fragte Zack: „Wie heißt der Vermisste?“ Zack: „Peter Zack.“ Der Beamte: „Haben Sie ein Foto von ihm dabei?“ Zack zeigte ihm seinen Personalausweis. Der Beamte: „Der sieht ja genauso aus wie Sie. Ist das Ihr eineiiger Zwillingsbruder?“ Zack: „Nein, ich habe keinen eineiigen Zwillingsbruder, auch keinen zweieiigen. Der auf dem Foto bin ich selbst. Ich bin der Vermisste.“ Der Beamte, etwas ungehalten: „Warum sagen Sie das nicht gleich? Das ist ein hochinteressanter Fall! Der Vermisste vermisst sich selbst. So etwas hatten wir noch nie. Dann muss ich nur noch wissen, wo und wann und unter welchen Umständen Sie verschwunden sind.“ Zack: „Gemerkt habe ich es gestern morgens beim Aufwachen in meinem Bett. Es muss im Schlaf geschehen sein und ohne jede Umstände, denn bei Umständen wäre ich wach geworden und hätte mein Verschwinden rechtzeitig verhindern können.“ Der Beamte schrieb ein Protokoll und kopierte Zacks Ausweis. Nachdem Zack die Richtigkeit der protokollierten Darstellung seiner Angelegenheit mit seiner Unterschrift bestätigt hatte, gab ihm der Beamte noch aufmunternde Worte mit auf den Weg: „Wir werden unser Möglichstes tun, um Sie zu finden. Versprechen kann ich aber nichts, denn wir sind zurzeit völlig überlastet und leiden an Personalnotstand.“ Zack war froh, diesen Schritt getan zu haben. Der Polizeibeamte hatte ihm jedenfalls viel mehr geholfen als der Seelenklempner. Er beschloss, zu Hause abzuwarten, bis die Polizei sich bei ihm melden würde, dass man ihn gefunden hätte.

Ein paar Tage später sprach ihn ein Nachbar an, ein Rentner mit Dauerfahne: „Herr Zack, Sie werden von der Polizei als vermisst gesucht. Im Bürgeramt hängt ein Plakat mit Ihrem Foto. Gibt es einen Finderlohn, wenn ich melde, dass ich Sie gefunden habe?“ Zack: „Da muss ich Sie leider enttäuschen, ich bin noch immer verschwunden.“ Der Nachbar: „Ach so, das ist etwas anderes. Schade eigentlich! Ich hatte mich schon auf einen Finderlohn gefreut. Aber vielleicht kann ich Ihnen bei der Suche nach Ihnen behilflich sein? Wir könnten in meiner Stammkneipe zu suchen beginnen. Dort scheinen sich immer mehrere Vermisste aufzuhalten.“ Zack: „Danke, das ist nett von Ihnen, aber nicht notwendig. Die Polizei wird mich sicher bald finden.“

Nachdem vier Wochen verstrichen waren, ohne dass sich die Polizei bei ihm gemeldet hätte, beschlich Zack ein furchtbarer Verdacht: „Vielleicht bin ich im Schlaf entführt worden!“ Sofort verdächtigte er diesen Attila, der ihm Juana ausgespannt hat. Mit diesem Kerl stand er auf Kriegsfuß, dem traute er alles zu. Wutentbrannt fuhr er mit dem Fahrrad nach Schöneberg, wo Attila und Juana wohnten. Ins Haus kam er gleich hinein, da gerade jemand herauskam, als er vor der Haustür stand. Er eilte die Treppen bis zur Wohnung der beiden im 4. OG hoch und läutete Sturm an der Tür. Attila öffnete. Er war ein großer fülliger Mann um die Vierzig mit Augenbrauen wie jenen dieses ehemaligen Finanzministers, der als Augenbrauen-Monster in Erinnerung geblieben ist. Zack schrie Attila an: „Wo hast du mich versteckt?“, und drängte sich an ihm vorbei in die Wohnung. Zack fiel sofort auf, dass sich in jeder Ecke eine etwa einen halben Meter große Buddhafigur im Lotussitz befand. Juana war nicht da, was Zack nur recht war, denn es ging hier primär um eine Angelegenheit zwischen Attila und ihm. Attila war im ersten Moment sprachlos. Dann rief er in einem für einen Österreicher erstaunlich akzentfreiem Hochdeutsch: „Sag, hast du sie noch alle?“ Er wollte Zack auf der Stelle wieder rausschmeißen, doch dann besann er sich und dachte: „Die arme Sau! Der ist völlig verstrickt in das Chaos dieser Welt.“ Er schlug Zack vor, Marihuana mit ihm zu rauchen, das wirke entspannend. Zack: „Qualm deinen Scheiß selbst! Ich weiß ganz genau, dass ich hier irgendwo versteckt sein muss, vielleicht in einem Schrank oder unter eurem Lotterbett!“ Attila: „Na klar bist du hier, dein Brüllen ist unüberhörbar. Im Nirwana bist du jedenfalls noch nicht.“ Zack: „Jetzt lenk nicht ab mit deinem buddhistischen Quatsch!“ Attila: „Schau dich in aller Ruhe um, und wenn du dich gefunden hast, dann nimm dich bitteschön wieder mit, denn nichts liegt mir ferner, als dich hier aufzubewahren.“ Zack guckte in alle Zimmer, schaute in die Schränke, unters Bett, in die Badewanne, ja er suchte sich sogar in allen Schubladen, obwohl er da nie und nimmer hineingepasst hätte, doch er konnte sich nirgendwo finden. Er musste einsehen, dass er sich geirrt hatte. Wortlos rannte er an Attila vorbei aus der Wohnung. Attila atmete erleichtert auf und drehte sich einen Joint. Den brauchte er nach diesem irren Erlebnis, mit dem ihn offensichtlich ein böser Geist aus dem spirituellen Gleichgewicht zu bringen versucht hatte.

Wieder zu Hause, befiel Zack eine tiefe Niedergeschlagenheit. In den folgenden Tagen lag er fast nur noch im Bett, wusch und rasierte sich nicht und aß kaum etwas. Eines Nachts, es war Vollmond, träumte ihm wirres Zeug. Er floh durch die engen Gassen einer mittelalterlichen Stadt, verfolgt von einer brüllenden Meute, die ihn ermorden wollte. Da ging auf einmal ein Haustor auf und eine alte Frau mit schlohweißem Haar zog ihn rasch in den Hauseingang hinein. Dann stieg sie mit ihm in einen Keller, der sich tief unter der Erde befand. Der Keller hatte die Ausmaße eines Saals und war vom Licht großer Kerzenleuchter erhellt. An den Wänden standen eng aneinandergereiht Stühle, auf denen Frauen, Männer und Kinder saßen, die schwiegen und sich nicht bewegten. Die alte Frau sagte zu ihm: „Du bist, der du auch nicht bist. Also bist du, der du bist.“ Dieser Spruch verwirrte Zack. Er ging im Saal herum und betrachtete die wie versteinert dasitzenden Menschen. Sie kamen ihm seltsam bekannt vor, obwohl er nicht wusste, von woher er sie kannte. Dann blieb er vor einem Kind stehen, das mit einem weißen Laken verhüllt war. Er zog das Laken weg und erschrak. Das Kind war er selbst im Alter von fünf, sechs Jahren! Er sagte zu dem Kind: „Du bist, der ich bin.“ Da begann das Kind zu lachen. Es lachte immer lauter und bog sich schließlich vor Lachen. Die anderen Sitzenden erwachten aus ihrer Starre und fielen in das Lachen ein. Zack rief beleidigt: „Was gibt es da zu lachen?“ Daraufhin brüllten die Sitzenden vor Lachen. Dann verstummten sie plötzlich und saßen wieder wie versteinert da. Das Merkwürdige war nur, dass Zack jetzt auf dem Stuhl des Kindes saß und ebenso jung und klein wie das Kind war. Vor ihm stand der erwachsene Zack und sprach zu ihm: „Du bist, der ich bin.“ Da bekam Zack als kleiner Zack auf dem Stuhl einen Lachanfall und kreischte: „Ich bin nicht du! Ich bin nicht du! Ich bin nicht so ein alter Uhu wie du!“ Dabei streckte er dem großen Zack die Zunge raus und zeigte ihm die lange Nase.

Hier brach der Traum ab und Zack erwachte mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Er spürte, dass sich in ihm etwas verändert hatte. Er war wieder ganz da und nicht mehr gleichzeitig verschwunden. Am nächsten Morgen verständigte er telefonisch die Polizei, dass er sich wieder gefunden habe und die Suche nach ihm eingestellt werden könne. Wie und wo er sich gefunden hat, verriet er jedoch nicht, zumal er es selbst nicht so recht verstand. Er vermutete, es müsse wohl irgendetwas mit der Begegnung und dem Rollentausch mit dem Kind im Traum zu tun gehabt haben.

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