Der alte Mann und der Schwanz

Von Johannes Morschl

Ein Dienstagabend Anfang November 2017. Eine offene Lesebühne in Berlin-Kreuzberg. Ein alter Mann wird zum Lesen aufgerufen.

Die Geschichte, die ich heute lese, hat den Titel Der alte Mann und der Schwanz. Sie hat aber nichts mit Hemingways Roman Der alte Mann und das Meer zu tun.

Auch wenn einige von euch, die mich von Lesungen her kennen, der Meinung sind, dass meine Texte immer pubertärer werden und von einem beginnenden Altersschwachsinn zeugen, schreibe ich unbarmherzig so weiter. Ich war schon immer starrsinnig und habe das Gegenteil von dem gemacht, was man von mir erwartete. Zufällig habe ich heute meinen siebzigsten Geburtstag. Es gibt da den Spruch: Alter macht weise. Von mir kann ich das nicht gerade behaupten. Wundere mich zum Beispiel, neben welcher Frau ich manchmal morgens erwache, und frage mich, wo und wie ich sie kennengelernt habe. Jedoch wird mir sogleich bewusst, dass gar keine Frau neben mir liegt, mir hat nur von einer geträumt. Stelle aber fest, dass ich einen Ständer habe, und der ist keine Einbildung. Ja, man hat auch noch als alter Mann einen Schwanz, der stehen kann, auch wenn das jüngere Leute als unappetitlich empfinden mögen. Wenn mein Schwanz sprechen könnte, so würde er vielleicht wie Martin Luther sagen: „Hier stehe ich. Ich kann nicht anders.“ Oder er würde vielleicht singen: „Ein Männlein steht im Walde ganz still und stumm.“ Er tut mir leid, mein alter Schwanz, wenn er so still und stumm herumsteht. Ich weiß ja, wonach er sich sehnt. Da ich weder eine Ehefrau, noch eine Lebensgefährtin oder Geliebte habe, müsste ich mit ihm zu einer Dame aus dem Sexgewerbe gehen, aber das würde ein gravierendes Loch in mein Budget reißen, denn ich gehöre zu den mehreren Millionen Menschen in Deutschland, die unter der statistischen Armutsgrenze leben. Deshalb bleibt mir gar nichts anderes übrig, als mir ab und zu einen runterzuholen.

Sehe schon, wie einige jetzt die Augen verdrehen. Vermutlich denken sie: „Jetzt fängt er schon wieder mit seinen kindischen Schweinereien an. Wen interessiert es schon, ob er noch einen Steifen bekommt und sich ab und zu einen runterholt? Warum liest er nicht lieber aus seinen Gedichten vor? Die versteht man wenigstens nicht.“ Nun gut, dem könnte ich entgegnen: „Selbst dran schuld, wenn ihr zu einer Lesung geht, bei der man auch mich auftreten lässt.“

Bin gerade am Überlegen, wann ich das letzte Mal gevögelt habe. Muss schon an die zehn Jahre her sein. Vögelte damals mit einer barmherzigen Kellnerin, die ich zu später Stunde in einer Kreuzberger Kneipe kennengelernt hatte und die auch nicht mehr die Jüngste war. Ich nahm dabei Cannabis zur Hilfe, um einem potenziellen Ausfall vorzubeugen. Ist mir schon früher ein paar Mal passiert. Wie steht man denn vor einer Frau da, wenn das Männlein im Walde nicht stehen will? Das ist unhöflich, das gehört sich nicht, hat schon Knigge gesagt. Früher hatte ich das Männlein immer zur Schnecke gemacht, wenn es sich verweigerte. Es wurde dann trotzig und blieb erst recht schlaff. Nachdem ich mit der Kellnerin eine Tüte geraucht hatte, wurden mein Männlein und ich ein Schwanz und eine Seele.

Ja, ja, der gute alte Schwanz! Schade, dass er nicht sprechen kann, denn sonst würde ich jetzt lieber ihn reden lassen. Das wäre sicher erheiternder als das, was ich hier erzähle. Da fällt mir ein, dass ich vergessen habe, ihm zu seinem Geburtstag zu gratulieren. Er ist ja auch heute Siebzig geworden. Muss ihn noch mit der Hand schütteln und ihm alles Gute zum Geburtstag wünschen. Ob ich das gleich jetzt machen soll, ehe ich‘s wieder vergesse? Bin nämlich ziemlich vergesslich geworden. Nein, lieber nicht, denn wie ich meinen Schwanz kenne, wäre ihm das peinlich vor all den Leuten hier. Außerdem könnte man dann glauben, ich sei ein Exhibitionist und würde mich nie wieder lesen lassen. Dies wäre aber eine grobe Fehleinschätzung. Ich bin nicht exhibitionistischer als all jene Autorinnen und Autoren, die den Drang verspüren, sich mit ihren Texten vor einem Publikum zu präsentieren. Zu solchen Auftritten gehört immer auch eine gewisse Portion von Exhibitionismus, denn man steht ja dann gleichsam mit seinem Text nackt vor den Leuten da.

Aber ich möchte hier keine Psychologievorlesung halten, sondern mich um den Klang der Worte bemühen, wie es sich für eine anständige Literaturlesung gehört. Allerdings kann ich nicht versprechen, ob mir dies auch gelingen wird. Versuchen wir es zum Beispiel im Stil von Hölderlin: „Im dunklen Efeu stand er mir an der von Gebüsch umrahmten Pforte der göttlich gebauten, der Pracht von einer Frau. Und als sie mir holde Einlass in ihre feucht glänzende Pforte gewährte, erschauerte ich vor himmlischem Glück. Dann tief drinnen in ihr sehnte ich mich nachtlang nach Erlösung, endlich zu kommen zu des Sterblichen rasenden Orgasmus…“ Halt! Ich höre ein Donnergrollen! Die Stimme von Marcel Reich-Ranicki erschallt aus dem Jenseits: „Hölderlin! Hölderlin! Er war ein Genie der deutschen Sprache! Wer treibt da so schamlos Schindluder mit ihm? Das kann nur ein Wiener sein.“ Ich fühle mich ertappt, ich bin nämlich gebürtiger Wiener. Na gut, ich sehe ein, dass mein Versuch mit Hölderlin nicht ganz geglückt ist, zumal ich auch sein Versmaß nicht getroffen habe. Versuchen wir es vielleicht im Stil von Eichendorff: „Es schienen so golden die Sterne, am Fenster er mir einsam stand, und ich hörte aus weiter Ferne ein Stöhnen der Lust im stillen Land. Das Herz mir im Leibe entbrennte, da hab ich mir heimlich gedacht: Ach, wer da mitstöhnen könnte in der prächtigen Sommernacht.“ Na ja, das ist ausgesprochen harmlos im Vergleich zu Hölderlin.

Da wir aber nun schon mal bei der Romantik angelangt sind, möchte ich ein allseits bekanntes Lied meines Landsmanns Franz Schubert vortragen, zu dem mir eine klitzekleine Textveränderung eingefallen ist: „Am Brunnen vor dem Tore, da steht er mir wie ein Baum. Ich träum in seinem Schatten so manchen sü-üßen Traum…“ Halt! Ich verrenne mich. Er steht mir wie ein Baum und ich träum in seinem Schatten? Das ist eindeutig größenwahnsinnig und außerdem vollkommen unrealistisch, denn wie sollte man sich mit so einem baumgroßen Teil fortbewegen können? Ganz abgesehen davon, dass es in keine Hose passen würde, müsste man es ja auf einen Wagen legen und vor sich herschieben, wofür man Bärenkräfte bräuchte, denn so ein Baum ist nicht gerade leicht.

Denke, ich höre mit meinen Bemühungen um den Klang der Worte lieber auf. Sie geraten mir heute zu einseitig, habe mich zu sehr auf den Schwanz fixiert. Dieses Thema verfolgt mich nun. Merke gerade, dass mich depressive Gedanken beschleichen, die mir sagen: „Du möchtest nur dein trostloses Leben als einsamer alter Mann überspielen, ja du nimmst sogar in Kauf, dass man übelst über dich lästert, denn das scheint dir immer noch besser zu sein, als ignoriert zu werden.“ Ja, ich gebe zu, da ist etwas dran. Wenn sich mein Gemüt verdüstert, was mir in letzter Zeit ziemlich oft geschieht, bilde ich mir ein, eine Gestalt in einem Albtraum zu sein und sage mir, dass es sich bei einem Traum, in dem ich vorkomme, sowieso nur um einen Albtraum handeln könne. Insofern hoffe ich, heute Nacht träumt keinem der hier Anwesenden von mir. Dies würde ich nicht einmal meinem schlimmsten Feind wünschen, falls ich einen solchen überhaupt hätte. Ja, das wäre wenigstens etwas, einen Feind zu haben, wenn man sonst niemanden hat. „Liebet eure Feinde“, heißt es in der Bibel, aber woher soll ich einen Feind nehmen, den ich lieben könnte? Mir bleibt also gar nichts anderes übrig, als mich selbst zu lieben, dabei bin ich gar nicht mein eigener Feind, oder vielleicht doch? Ja, vielleicht bin ich doch mein eigener Feind, ohne dass es mir bewusst ist. Dies würde sogar einen gewissen Sinn ergeben, wenn ich an die Unmengen von Zigaretten, Alkohol und anderen Drogen denke, die ich mir in meinem Leben schon reingezogen habe. Meine Lebensweise könnte als ein in die Länge gezogener Suizidversuch angesehen werden.

Jetzt habe ich mein Leben ohnehin bald hinter mir. Der Tod kommt wie ein Expresszug aus der Ferne näher. Da wird man es mir nicht verübeln können, dass ich mich in der mir noch verbleibenden Zeit süßen Träumen hingebe, bei denen ich na man weiß schon was tue. Mein eigenes Stöhnen, wenn ich dies tue, höre ich kaum noch, denn ich leide an Altersschwerhörigkeit. Nur wenn ich meinen monatlichen Kontoauszug von der Bank bekomme, höre ich mein Stöhnen etwas lauter. Dass dieses letztere Stöhnen aber nichts mit Lust zu tun hat, wird man sich hoffentlich denken können, falls man mir überhaupt noch zuhört und nicht schon selbst zu träumen begonnen hat.

Der alte Mann tritt unter einer Mischung aus Applaus, Pfiffen und Buh-Rufen ab.

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