Arzt oder Kaffee?

Von Madame Pavot

Das Netz ist weg. Ich fühle den freien Fall, die Leere, die Angst. Mein Herz klopft gefühlte Extrasystolen, meine Hände werden feucht, was soll ich tun? Jahrelang konnte ich springen, wurde aufgefangen, jeder Sprung war nicht schlimm, niemals dramatisch, sie haben mich einfach verstanden, in allen wachen Nächten, mit allen Gefühlen, die das alltägliche Leben mit sich bringt. Sie waren meine Sicherheit, sie lobten meine Worte. Ich war daheim. Sie waren mein Netz.
Die Tante am Telefon seufzt leise, wahrscheinlich nahm sie vor mir hundert solcher Anrufe entgegen, lauter wütende Leute ohne Netz. Vielleicht feilt sie nebenbei ihre Fingernägel, ich störe sie dabei, „Dauert eine Woche“, sagt sie, und ich falle erneut. Das Extrasystolenherz tobt sich ordentlich aus. Es reiht Zusatzschlag an Zusatzschlag. Netz und Herz wollen mich einfach verarschen. Ich lege auf.
Ich nehme meine alte Jacke vom Garderobenhaken und stürme einfach hinaus. Draußen schlägt mir der Sonnenhimmel entgegen. Meine Augen tränen, das kommt davon, dass man monatelang im abgedunkelten Zimmer sitzt und abends einkaufen geht. Ich muss idiotisch blinzeln. Dann höre ich eine Stimme, die fragt, ob mit mir alles OK sei. „Gar nichts ist OK,“ will ich brüllen, „Verpissen Sie sich“.
Durch meine Tränenaugen sehe ich eine kleine Frau. Sie trägt eine bunte Mütze, geringelte Strümpfe, um ihre Finger ist eine rosa Leine gewickelt, an der eine kleine, nackte Katze mit großen Ohren zieht. Ich bin fassungslos und vergesse kurzzeitig, wie ich mich fühle.
„Hä? Was ist jetzt, ey“, brüllt die Frau, „Brauchst du einen Arzt oder nur Kaffee? Ich habe nicht ewig Zeit, Zeus wird hier ungeduldig!“
„Kaffee“, krächze ich, die verrückte Frau setzt sich in Bewegung, Zeus miaut leise, ich trotte hinterher, meine Augen tränen immer noch, aber vielleicht gibt es auch draußen ein anderes Netz für mich.

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