„Warum kommst du mich eigentlich so oft besuchen? Wir waren doch nie befreundet, oder?“ Mario sieht mich nicht an, blickt vielmehr angestrengt aus dem Fenster, hinunter auf die gepflegten Grünflächen und die schmalen, gewundenen Kieswege der weitläufigen Spitalsanlage. Seine raue Stimme ist leise und lauernd. Vorsicht bei derart beiläufig gestellten Fragen!
Ich krame in meinem Rucksack, tue, als ob ich ihn nicht gehört hätte.
„War er heute Nacht wieder bei dir?“ erkundige ich mich sachlich.
Mario schweigt eine lange Minute, dann richtet er seinen dunklen, stechenden Blick auf mich.
„Siehst du ja!“, schnaubt er düster und hebt anklagend seinen linken Arm. Seine Mundwinkel zucken. Zwei frische hellrote Einschnitte verlaufen zwischen alten, verblassten vom Handgelenk bis zum Ellbogen.
„Er hat wieder verlangt, dass ich mich schneide. Teile meinen Schmerz, sagt er immer. Seine Stimme – seine bloße Gegenwart ist so beängstigend, unerträglich – dieses kalte, blaue Licht, eiskalt…“
Mario verstummt, setzt sich auf den Rand seines Bettes, krümmt den Rücken, schlägt die Arme um seinen Oberkörper, wiegt sich langsam hin und her.
„Du denkst wirklich, dass er real ist? Woher kommt er und warum ausgerechnet zu dir? Was will er von dir?“
Ich erschrecke, die so oft zurückgedrängten Fragen sind nun einfach aus mir herausgesprudelt.
„Weißt du, woher du kommst und ob du real bist?“, überschlägt sich Marios Stimme sogleich vor Ärger. „Ich weiß nicht, was oder wer er ist und warum er solche Macht über mich besitzt, dass ich mich sogar verletze, wenn er es mir befiehlt. Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht! Ich weiß auch nicht, warum er zu mir kommt – und weiß genauso wenig, warum du andauernd zu mir kommst! Na, sag schon, Felix, warum bist du hier?“
Mario fixiert mich aus tief liegenden Augen. Ich versuche, seinem Blick standzuhalten, beginne zu schwitzen. Er weiß es, denke ich, er weiß, dass mich seine Mutter für meine wöchentlichen Besuche bei ihm bezahlt.
„Na hör mal, als ehemalige Schulkameraden ist das doch selbstverständlich.“
Ich stocke unsicher, als Mario plötzlich aufspringt und eine Sekunde später ganz nahe vor mir steht.
„Dann soll es so sein“, flüstert er. „Ein Lügner wie du verdient es nicht anders. Ich habe dich lange genug geschützt.“
Er greift in seine Hosentasche, nimmt etwas heraus und drückt es mir mit zitternden Fingern in meine rechte Hand.
„Dies ist“, er presst seine Lippen zusammen. „Dies ist von dem blauen Wesen.“
Ein kleines, in Zellophanpapier gewickeltes, eisblaues Bonbon liegt auf meiner Handfläche.
„Hör zu, Felix!“ Marios bleiches Gesicht ist dicht vor mir, seine angsterfüllte Stimme ist kaum hörbar. „Da drinnen – “, seine Zeigefinger tippt kurz auf das Zuckerl, „da drinnen ist seine gesamte Energie.“
„Das ist ja sehr praktisch“, sage ich laut, einen Lachreiz unterdrückend. „Dann werde ich seine gesamte Energie sofort vernichten.“
Rasch wickle ich das Bonbon aus dem Papier und nehme es in den Mund. Es schmeckt nach Pfefferminze. Marios Augen weiten sich, er wird noch blasser.
„Was, was tust du nur!“, sagt er matt. „Nun gehörst du ihm, du Vollidiot.“
Er sinkt auf den grauen Teppichboden. Angesichts dieser absurden Situation muss ich heftig lachen. Ich verschlucke mich, das Bonbon bleibt mir in der Kehle stecken. Ich huste und lache, spüre, wie mein Gesicht rot anläuft und mir der Schweiß ausbricht. Ich bekomme keine Luft mehr, gerat in Panik, huste und huste und schaffe es endlich, das Bonbon auszuspucken. Es fällt ausgerechnet Mario auf den Schoß, der gellend zu schreien beginnt, immer hysterischer schreit, nicht zu schreien aufhört, auch nicht, als ich das Bonbon längst von seiner Hose entfernt und in der ganzen Aufregung wieder in meinen Mund befördert habe.
Die Tür wird aufgerissen, eine Krankenschwester stürzt herein, spricht beruhigend auf den brüllenden Mario ein und winkt mir gleichzeitig, zu gehen. Ich nehme meinen Rucksack, verlasse das Zimmer, gehe, so schnell ich kann, den langen Gang entlang, laufe die Treppen hinunter, zweiter Stock, erster Stock, Erdgeschoß – hinaus, nur hinaus…
„Ich habe dir Bücher mitgebracht“, begrüße ich Mario eine Woche später.
Er reagiert nicht, liegt bewegungslos auf dem Bett und starrt zur Decke. Ich lege die Bücher, die mir seine Mutter gegeben hat, auf das Nachtkästchen. Mario schaut mich nun an, auf seinem Gesicht ein Lächeln von solcher Wärme, dass ich erschrecke.
„Danke“, sagt er leise. „Vielleicht kann ich nun wirklich wieder lesen, so wie früher. Seit das blaue Wesen nicht mehr zu mir kommt, fühle ich mich absurderweise schrecklich leer. Vielleicht helfen mir Bücher über diese Leere hinweg.“
Er setzt sich auf, lehnt sich an die weiße Wand.
„Bist du mir böse, Felix?“, fragt er kindlich. Tränen laufen ihm über die Wangen.
„Warum sollte ich dir böse sein?“
„Weil ich dir das Bonbon mit seiner Energie darin gegeben habe, weil er mich nun in Ruhe lässt und sicherlich jetzt dich quält! Macht er dir große Angst?“
„Rede keinen Unsinn. Freu dich lieber, dass es dir besser geht! Du wirst sicherlich bald nach Hause dürfen, dein früheres Leben aufnehmen, wieder normal leben können. Um mich mach dir bitte keine Gedanken, da besteht absolut kein Grund.“
„Ist es sehr schlimm für dich?“, weint Mario.
„Was meinst du? Es ist alles in Ordnung.“
„Lüge nicht!“, schreit Mario.
„Ich lüge nicht“, lüge ich.
Mario fasst mich grob am linken Handgelenk, zerrt mir den Ärmel meines Pullovers hinauf. Fassungslos starrt er auf meinen Unterarm.
„Keine Schnitte?“, stammelt er. „Er verlangt nicht von dir, dich zu verletzen?“
„Bitte, vergiss diesen blauen Geist, er existiert nicht.“
Mario hört auf zu weinen, sein Gesichtsausdruck wird hart. Er lässt meinen Arm los.
„Ich möchte, dass du nie wieder zu mir kommst“, sagt er, geht zur Tür und öffnet sie weit. „Geh jetzt!“
Als ich nicht sofort reagiere, zischt er: „Verschwinde endlich, du verdammter Lügner!“
Ich verlasse das Krankenhaus, kaufe mir in der Spitalsapotheke noch eine Heil- und Wundsalbe. Die frischen Messereinschnitte an meinen Oberschenkeln schmerzen ein wenig, wenn beim Gehen der raue Hosenstoff an ihnen reibt.
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© 2022 Claudia Dvoracek-Iby
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