Das weiße Land der Seele

Von Regine Wendt

Ein Kürzel aus Haaren VIC. Haarfein auf ein altes Blatt Papier festgeklebt. Daneben roter Lack zu erahnen, fast wie ein Siegel. Vergilbt, schon leicht zerfleddert, beschmutzt. Eine Frauenstatue aus Stein schmückt die Fläche, der Kopf mit hüftlangem Haar vom Torso scharf getrennt. Das Gesicht, zerstört, leer. Ein langes Gewand umhüllt die Figur. Auffallend und guterhalten einzig das Haarzeichen. VIC

Warum hier in der herunter gekommenen kleinen Kapelle auf dem Boden voll Schutt. Muffige Luft, ein klappriges Bänkchen, das Kreuz hängt beschädigt schief, die Wände, ehemals weiß, jetzt im tristen verwitterten Grau. Durch ein Fenster fällt wenig Licht. Dem Verfall und der Zeit preisgegeben, auch das Blatt. Einprägsam das Haar, als spräche es.

Ein unklar ängstliches Gefühl treibt mich hinaus. Ich krieche durch das Efeugerank der Türöffnung ins Freie. Finde den schmalen Pfad im dichten Wald, dann den kleinen Weg, menschenleer hier. Nur der Eichelhäher, der Wächter des Waldes warnt. Ich fühle mich beobachtet, der Schritt wird schneller. Das vergilbte Blatt nehme ich mit. Ein seltsames Fundstück, nicht erfassbar. Fragen ohne Antwort. Ein Dornbusch hält mich kurz zurück, von meinem linken Arm tropft Blut. Verboten, ruft es in mir und mit einem Schrei wache ich auf.

Der Wecker rasselt, der tiefe Kratzer am linken Arm hat sich entzündet. Auf dem Nachttisch ein wieder entdecktes Buch .- Das weiße Land der Seele -. Gerlinde, meine schöne junge Freundin mit dem langen Engelshaar, hatte es mir geschickt, zusammen mit einer Haarsträhne von ihr, danach verschwand sie spurlos aus meinem Leben.

Sie hatte die Angewohnheit, mir im Gespräch über die Schulter zu streichen, ohne sie zu berühren. Manchmal ein langer Blick im Schweigen, Vertrauen gegen Vertrauen. So lange her, warum kommt sie mir jetzt so nah? Ihre Hände in ihrem Haar und es erging mir wie dem Schiffer mit der Lorelei, mein Kopf trennte sich von meinem Bauch mit scharfem Schnitt.

Ihre Bücher sind mir besonders in Erinnerung, Schamanen, Heiler auf weiten Reisen auf Suche nach besonderen Drogen, Halluzinogenen, Traumpilzen, was auch immer. Es war die Zeit der Bewusstheitserweiterung, Drogen mit Bedacht gewählt. Das weiße Land der Seele.

Ich ordne mein Leben nach besonderen Träumen. Sind mein Kopf und mein Bauch zu sehr zusammen, die Vernunft die Sicherheit kontrolliert? Oder laufe ich mit einem Wasserkopf herum, ohne es zu bemerken? Sollte das Unbestimmte wieder mehr Raum fordern? Ein Kürzel aus Haar VIC gleich Victoria- . Auf der Suche nach dem Sanften – fällt es mir spontan ein. Noch gut verpackt, leicht geknebelt das Ganze, ohne Gesicht.

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© 2022 Regine Wendt
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