Der 9. Kreis

Von Marion Kannen

Das blaue Licht, dass durch die Jalousien flackert, stammt nicht von einem Streifenwagen,
sage ich, es ist wieder der Irre von Gegenüber, der sommers wie winters
nachts die Weihnachtsbeleuchtung auf seinem Balkon an- und ausknippst,
ich lasse die Jalousien weiter herunter, dann ist es dunkler, sage ich,
bleib liegen, schlaf wieder ein und ich decke dich zu.
Wenn sie kommen, dann nachts um drei, vier Uhr, das ist längst vorbei, heute passiert nichts mehr.
Du legst deinen Kopf wieder auf das weiße Kissen, deine blonden unschuldigen Strähnen,
deine schwarzen krausen Locken, deine schmalen Finger, deine weiche warme Hand
neben die gewölbte Wange, die hellen Wimpern, die offenen Lippen,
dein Atem wieder gleichmäßig, jetzt, und ich werde sie hereinlassen und zu dir führen.
Sie nehmen dich mit und du schaust mich an, fassungslos ungläubig
und ich schaue zurück ohne zu blinzeln, schaue in deine Augen
und du siehst keine Regung in meinem Gesicht, keinen Grund in meinen Augen.
Ich schaue bis sie fort sind mit dir, dann lasse ich die Jalousien ganz herunter
und lege mich auf den Rücken mit weit geöffneten Augen, in denen ich Tränen gefrieren lasse
zum Siegel aus Eis und werde die Stille und das Schwarz und das Eis.

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© 2022 Marion Kannen
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