Von Michael Wiedorn
Der Winter 1983.
Ich blätterte im Ausstellungskatalog über die „Neuen Wilden“ im Martin-Gropius-Gebäude. Rohe Erdmassen unter denen Tote ruhen könnten in verlassenen Heiden und bunte Lichter der Großstadt. Schillernd blau und brennend rot. Schmalhüftige Männer duschen im düsteren Azur eines kalten Morgens. Ich hörte Clash. Die Dumpfheit der Großstädte verwandelt sich in Zorn und explodiert und reißt die Betonmauern in Flammen auseinander. Eine innere Flut schwappte in meiner Brust auf. Draußen vor dem Fenster gefror alles Leben. Im Winter verbrachte ich die Monate an die brennenden Heizkörper geklebt und las und las. Weit ab von allem Leben. Ein Gelähmter haust vereinsamt weit draußen in der Steppe in einer Festung aus Felsen. Etwas aber wollte sich in der Weite der Welt ausbreiten. Durch einen Job bei der Post in der Vorweihnachtszeit hatte ich etwas Geld verdient.
Jemand brach mich aus der Brutwärme meiner Kindlichkeit und gebot mir nach Berlin aufzubrechen. Ich fuhr per Mitfahrgelegenheit. Berlin tief hinter Stacheldraht und fleischgeilen Minen, umschlossen von feindlichem Umland, das vielleicht bald die Panzer zur feindlichen Übernahme losschicken wird. Eine Todeszone. Im Januar war es klirrend kalt und die Erde war grau-braun und betonhart. Der Boden verweigerte dem Erschossenen die Aufnahme. Die Grenze schnitt, zerschnitt Deutschland und Europa wie ein frisch geschliffenes Skalpell, das zusammengehörende Glieder abtrennt. Der harte, als Streckschuss durchschlagende Blick eines Grenzpolizisten bohrte sich in das Innere meines Kopfes. Er verdächtigte mich. „Sag mir, wer du bist!“ Das Fluchtlicht des zwingenden Blickes. Es herrscht Lichtzwang! Das selbe Grün und Braun der Wiesen und Berge auf beiden Seiten der Grenze. Die selbe Sprache, die selben Fachwerkhäuser. Kontinentalplatten schieben sich unter die andere Kontinentalplatte. Der Erdboden reißt auf und bebt und wankt. Ein Fachwerkhaus bricht plötzlich auseinander. Ein tiefer Erdgraben klafft auf. Das Schlafzimmer entfernt sich Erdteile weit vom Wohnzimmer. Europa wird am Tag X radioaktiv verglühen. Ich werde es erleben!
Im Hinterland der Grenze begann wieder das fade Einerlei aus Autobahnen und Äckern. Deutschland ist ein langweiliges Land. Gleichmäßiges Rauschen des Autoverkehrs, die grauen Blechplanken am Straßenrand. Der schwarze Asphalt. Ich wurde von der Eintönigkeit müde, aber es war keine sanfte Schläfrigkeit, die mich in den Schlaf sinken ließ, sondern eine abschlaffende Unruhe, die es im Schädel bohren und stechen ließ. Wir hielten an einer Raststätte. Ein öder Steinbau. Wir aßen schnell eine Wurst und schluckten hastig schlechten Kaffee in unseren gierigen Schlund. Wir lebten nicht, sondern hatten auf der Autobahn unseren Lebenslauf unterbrochen, um von dem letzten westdeutschen Ort, an dem man sein Leben abbrach, nach Berlin zu gelangen, wo man sein Leben wieder aufnahm. Wir durften nicht vom Weg abweichen. Wir befanden uns in keinem Land, sondern im Niemandsland. Während der Fahrt glotzte ich die Autobahnschilder an – weiße Schrift auf blauem Grund -, ob die Kilometerzahl nach Berlin gesunken sei. Am Ziel würde das Leben wieder zu leben anfangen. Wir hatten die Ausfahrt nach Leipzig schon hinter uns. Wir näherten uns Potsdam. Die hohen, braunen Kiefern und das kahle Gesträuch im schneelosen Januar. Unerreichbares, feindliches Ausland! Kanada und die Türkei lagen uns näher. Schwalben flogen weit entfernt in den östlichen Wolken. Sie zogen weiter nach Sachsen, Polen, die Weiten Zentralasiens, in die Mongolei.
Wir nähern uns Westberlin. Wieder Flutlichter, Minenfelder. Ein falscher Schritt auf der heimtückischen Erde und die Bilderfolge des Lebens explodiert und ist endgültig abgeschaltet. Kaltes Licht. Die Kälte durchschauerte meinen Körper. Ein unscheinbarer Grenzbeamter der Deutschen Demokratischen Republik musterte pedantisch meine Gesichtszüge durch ein schäbiges Kassengestell.
Wannsee! Grunewald! Gründerzeitvillen in dunklen, zugewachsenen Gärten. Wir fuhren eine große Straße und näherten uns beharrlich dem glitzernden Leben einer Metropole. Die Dunkelheit und Verlassenheit draußen wurde durch fahles Licht aufgehellt. Die künstlichen Lichter der westlichen Vergnügungskultur vertrieb den Ernst der östlichen Steppen. Warm gelbes Licht, blaue und rote Leuchtreklame. Wir fuhren den Kudamm hoch und ich stieg am Bahnhof Zoo aus. Stieg ich wirklich Bahnhof Zoo aus? Ich kam vielleicht mit dem Zug an.
Bei den Bushaltestellen vor dem Bahnhofsgebäude stieg ich aus. Besoffene und Verdrogte standen im Frost. Der gefräßige Schlaf ließ wie Bleigewichte ihre klapprigen Beine in die Tiefe zum Erdboden runter unter den Asphalt drücken. Bevor das Erdreich sie verschluckte, rissen sich die Betrunkenen wieder in die Höhe und standen steif verkrampft in der Wirklichkeit. Die Augenlider wurden immer schwerer, traumverloren. In der Kälte saugt der Schlummer seine Opfer in die täuschende Wohligkeit seiner Sümpfe. Sanft und liebevoll ruft eine Betrügerin mit Stimme und Gesicht der Mutter das vertrauensvolle Kind in die Falle. Den Betrogenen erstarren Arme und Beine. Ich betrat die Bahnhofshalle. Schmutzige, grün-bräunliche Fliesen glänzten schmutzig.
Gedämpftes Licht wie in einem Aquarium. Das Licht warf in den Ecken große Schatten. Touristen mit Koffern und Rucksäcken. Ausgemergelte, leichenblasse Jungs in meinem Alter lungerten herum. Hastig soffen sie ihr Bier und ließen ihren flackernden Blick auffällig unauffällig über die ganze Bahnhofshalle schweifen. Unauffällige, ältliche Männchen. Möglichst unauffällig. In einigen Jahrzehnten werde ich einer der ihren sein. Die Stille und Ereignislosigkeit in den Einzimmerappartements gealterter Junggesellen. Ihre ängstliche Feuchtigkeit wird die Härte der Jungs vergiften.
Als Kind sprach meine Mutter mit tiefem Grauen über gewisse Herren.
Spät in der Nacht kam sie einmal vom Elternabend. Sie stand an der geöffneten Türe meines Zimmers und achtete vor Aufregung kaum darauf, ob ich schon schlief‚ machte das Licht an und forderte, dass ich aufstehe und ins Wohnzimmer komme‚ um etwas sehr Wichtiges mit ihr zu besprechen. Beim Elternabend habe sie erfahren, dass sich ein Kinderschänder um meine Schule herumtreibe.“Ich muss dich jetzt aufklären über das in deinem Höschen und das mit den erwachsenen Männern“. Neugierig geworden, stand ich auf und ging ins Wohnzimmer. Die Heimgekehrte saß zitternd und nervös auf dem Stuhl und saugte verkrampft an ihrer Zigarette.
„Zuerst einmal bist du in letzter Zeit von einem fremden Kerl angesprochen worden?“ Ich schüttelte eifrig mit dem Kopf. Noch lange nicht beruhigt sagte sie: „Blicke mir fest in die Augen! Schwöre, dass du dich nie von jemand Fremdem ansprechen lässt, sondern möglichst schnell davonläufst!“ Ein schmieriger, alter Mann, dem lange Haare aus den Nasenlöchern wuchsen, hauchte mir seinen fauligen Atem ins Gesicht. Seine tränenden, traurigen Augen. „Schwöre es“ – forderte meine Mutter mit drängendem Ton. Der gelbhäutige Greis stank ölig wie vergammelte Fische, wie mein eigener Erguss, der seit kurzem nachts und immer häufiger auch tagsüber aus meinem Glied schoss. Weiß-gelber Schleim wie Eiter aus einer Wunde. Die Frau hatte kein Organ, aus dem so etwas rann. Ich hob meinen Finger zum Schwur, dass ich, wenn ich angesprochen werden würde, rennen würde, um mein Leben rennen würde. Der alte Mann war da. Niemand konnte ihn sehen, aber ich spürte deutlich seine Gegenwart. Meine Mutter sog angstzerrissen an ihrer Zigarette. „Er hat schon einige Kinder in der Nähe der Schule angesprochen und von ihnen verlangt, dass sie sich das in der Hose ansehen. Wurdest du in letzter Zeit in dieser Hinsicht schon angemacht?“ Mich ergriff eine Unruhe und ich kam ins Grübeln und verneinte schließlich. Mir fiel plötzlich ein Mann mit pechschwarzen Haaren ein, die gar nicht zu seinem faltigen, argestorbenen Greisengesicht passten. Ich stand einmal nach Schulschluss im prallen Regen an der Bushaltestelle. Auf der anderen Straßenseite starrte er unverwandt zu mir. Er hatte keine Augen in den Höhlen. Schwarze Leere. Verwirrte Vögel flogen aus tiefen Kellern.
Ich sagte der Angstzerrissenen nichts von meiner Begegnung. Vielleicht war dieser Fremde nur ein Auswuchs meiner Träume.
Ein toter Junge trieb langsam den Fluss hinab. Nackt mit einer großen, zornigen Wunde zwischen den Beinen. Blut vermischt mit Eiter trat aus der klaffenden Wunde. War der aufgeilende Schleim nichts anderes als dieses Gift?
Meine Mutter drückte die angerauchte Zigarette im Aschenbecher aus und meinte, dass es Zeit sei ins Bett zu gehen. Ins Bett zurückgekehrt, im Dunklen hörte ich den Alten neben mir schwer atmen. Seine Hand berührte meine Haut. Er löste sich in mir auf. Meine Hand war im Mondlicht gealtert. Blut trat aus der Wunde.
Im Bahnhofsgebäude gab es eine schummrige, schmierige Kaschemme, in die sich kaum Touristen verliefen. Jahre später lief ich über die Bahnhofshalle. Aufgeregte und betreten blickende Leute standen um ein Häufchen. Auf dem Boden vor der Kneipe lag ein dicklicher Männerkörper in einer Blutlache. Ein Erschlagener. Ein Erstochener. Ich sah ein Häufchen. Ein Mann? Er soll dicklich gewesen sein? Ich habe nie Tote gesehen.
Das Titelbild der „Kinder vom Bahnhof Zoo“ zeigt in Schwarz-weiß eine Alltagsszene in der Bahnhofshalle. „Die Kinder vom Bahnhof Zoo“ waren die heimlichen Helden gelangweilter, scheuer Landmädchen und akne- und lateingeplagter Internatsschüler irgendwo im Sauerland oder im Allgäu. Ein großgewachsener, breitschultriger Junkie mit bleichem, hartem Gesicht. Ein Krieger an der vorderster Front des Elends.
Was unternahm ich nach der Ankunft am Bahnhof? Suchte ich mir ein Hotelzimmer? Eine riesige Reisetasche aus Segeltuch hatte ich dabei. Mit hellbraunem Ledergriff. Zwei Pullover oder T-Shirts. Eine Ersatzjeans, falls ich mal in die Hose mache. Habe ich seit Säuglingszeiten nicht mehr gemacht. Zahnbürste und Zahnpasta. Ich stelle mir vor, dass ich ein Hotelzimmer in einer Pension in der Kantstraße bezog. Hotelzimmer riechen häufig abgestanden, als überzöge ein dichter Film von Bakterien alle Möbel. Nachts stieg ich in den Schrank und versank in fremdes Dunkel. Der Geruch wuchs zum unerträglichen Gestank an. Alles klebte von abgestandenem Schweiß. Die Bettwäsche war starr von fremden Ausscheidungen. Fremde Feuchtigkeit war in die Fasern und Härchen des Teppichbodens eingetrocknet. Es ekelte mich ins Bett zu legen. Nachts erwachte ich und wusste nicht, wo ich mich befand.
In den Jahren davor war ich mehrfach in Berlin gewesen. Ich wußte von nichts und lief nur den Kurfürstendamm auf und ab wie ein gefangenes Tier. Leer und sinnlos. Wer erlöst mich von der Ereignislosigkeit? Einmal fuhr ich mit der U-Bahn immer gerade aus zum Schlesischen Tor und lief immer weiter nach Osten. Von Kohlenausdünstungen schwarz gefärbte Brandmauern. Verfallene, nach Schimmel und Schwamm miefende Altbauten. Alle Straßen endeten abrupt an der Grenze. Der alles umschließende Todesstreifen. Ich lief ratlos durch die Straßen und fuhr zurück zum Zoo. Das Tier ist in sich und seinen Schrank gesperrt und nimmt nur das Dunkel seiner Gefangenschaft wahr. Im Schrank ist es gemütlich und die Abfolge der Zeit ist aufgehoben.
Sollte ich von zu Hause ausziehen? Das im Winter von der Zentralheizung beheizte Reihenhaus meiner Mutter in München. Mit Anfang Zwanzig sollte man in die weite Welt treten. New York, London, Rio. Woher soll das Geld kommen?
Ich besuchte das „Sounds“. Ich lernte eine Gruppe Jungs mit ihren Mädels kennen. Vor kurzem freigekauft aus der DDR. Sie standen jetzt staunend im Westen und erwarteten ein neues Leben. Einen Porsche, vielleicht eine tolle Eigentumswohnung oder ein Reihenhaus. Wir gingen gemeinsam ins Linientreu, der damals angesagten Disco. Ich weiß garnicht mehr, wie sie aussahen. Ich war nur froh mit jemand ins Gespräch zu kommen. Interessierten sie mich? Was sollten sie mit mir? Sie hatten mir ihr Leben in der DDR erzählt, was sie sicher schon unzählige Male erzählt hatten. Repressionen, schlechte Konsummöglichkeiten. Als sie ihren Text heruntergesagt hatten, schwiegen wir uns an. Ich fand das natürlich auch alles schrecklich wie wahrscheinlich die meisten Wessis. Meine neuen Bekannten fingen dann an, sich miteinander zu unterhalten. Es war Zeit, daß ich aufstehe und meine eigenen Wege gehe. Mein ganzer Körper war ganz verspannt und verkrampft um meine Charaktermaske aufrecht zu erhalten. Inmitten der mich messenden und beobachtenden Blicke der feindlichen Mitmenschen könnten meine verkümmerten Beine einknicken und ich könnte hilflos zu Boden stürzen. Man würde mir mitleidig hoch helfen. Hinter meinem Rücken würde man hämisch tuscheln. Schleunigst verließ ich den Laden.
Den größten Teil des Tages verbrachte ich im Café Größenwahn. Ich wartete und wartete und hielt mich möglichst lange aufgrund meiner geringen Geldmittel an einem Glas Bier fest. Von dort ging ich später tief in der Nacht in Aufreißkneipen. Hinter dem Gefangen knallen die Eisentüren ins Schloss. Der Gefangene erwartet seine gerechte Strafe. Im „Knast“ war nur ganz klammes Licht. Schwarze Eisengitter, schwarz gestrichene Wände. Hier inmitten von Leder, Stahl und Muskeln passte ich mit meiner unterentwickelten Körperlichkeit und meinen dicken Brillengläsern wie die Faust aufs Auge oder besser wie ein bettlägeriger Greis auf einem Fußballfeld. Die Leute waren mir damals zu alt. Mitte dreißig bis Mitte fünfzig. Schauspieler versuchen möglichst gut ihre Rolle zu spielen. Die Darsteller hier lebten ihre Charaktermaske lässiger und selbstverständlicher als ich. Sie waren mir deutlich überlegen indem sie es wagten zu zeigen, wer sie gerne wären, auch wenn sie es nicht sind. Was oder wen suchte ich hier? Gelegentlich sah ich attraktive Alterskollegen, zu denen es mich hinzog. Sie waren vielleicht in ein Gespräch versunken. Ich kam garnicht in Frage. Für sie war ich weniger anwesend als irgendein Barhocker oder ein Aschenbecher. Jemand, den ich bewunderte, stand alleine da. Ich ging einige Male an ihm vorbei und starrte ihn an. Er blickte bewußt wo anders hin. Er ließ seinen Blick über den ganzen Raum schweifen bis zu meiner Gestalt, sein Blick machte bei meiner Gestalt einen Sprung und ließ dann wieder seinen Blick über den restlichen Raum schweifen. Ich bin ein Stuhl, ich bin der gefüllte Aschenbecher, eine Ritze im Fußboden. Der Junge, der sich weigerte meine Anwesenheit wahrzunehmen, träumte. Er träumte nicht von mir. Er träumte den selben Traum wie ich. Wir träumten von Stärke. Ein muskulöser Körper steht fest auf dem Erdboden. Blut rauscht durch seine Adern und belebt ihn. Er ist auf keinen Fall ein Geist. Um mit jemand anderem ein Gespräch aufzunehmen, müssten meine Gedanken und Gefühle sich leichter in Worte und Gesten umwandeln. Alles in mir verkrampft sich in Gegenwart eines Anderen. Der Mitmensch stört mich. Er ist der Feind und soll qualvoll verrecken. Der Andere raubt mir mein Ich.
Ein Kampfboxer oder zumindest ein Kampfboxerdarsteller mit verhärteter Fresse und zerschlagenem Nasenbein betritt den Laden. Spöttische Augen zeigen seiner Umwelt, daß der noch kommen muß, der es mit ihm aufnehmen kann. Blonder Bürstenschnitt. Das enge T-Shirt läßt den Blick frei auf den massiven Brustkasten. Der Junge in schwerer Erdmannlederjacke, der bis jetzt lässig mit dem Rücken an die Theke gelehnt saß und dessen Blick voller Verachtung über mich und das restliche Volk streifte, durchzuckte plötzlich ein Blitz beim Blick in die ihn anstarrenden in sein Herz und seine Eingeweide eindringenden Augen des Boxers. Der Blick ist nicht mehr verschwommen, verträumt, ziellos, sondern verhärtet sich zu einer Zuneigung suchenden Feindschaft. Sie können sich gegenseitig ernst nehmen. Ein Stich ins Auge. Ein scharfes Messer durchschneidet den glitschigen Augapfel. Es war mir endgültig klar, daß ich nicht die geringste Chance hatte, zur Debatte zu stehen. Mit meinem Glas Bier lief ich jetzt orientierungslos im Laden hin und her. Das Bier beruhigte mich und hüllte mich in einen bleiernen Mantel aus wohliger Zukunftslosigkeit. Ich empfand keinerlei Geilheit. Später lernte ich einen netten Jungen kennen, bei dem ich übernachtete. Übernachtete ich während meines Berlinaufenthaltes jemals in einem Hotel?
Tagsüber saß ich wieder im Café Größenwahn. Das Tagescafe für die interessante Jugend und die sich dafür hielten. Ich wollte aus meiner Ereignislosigkeit herausgerissen werden – aus meinem bleiernen Dornröschenschlaf erweckt werden. Man hat mich zu lebenslänglichem Schlafwandeln verurteilt. Am Spätnachmittag betrat ich das Café bis tief in die Nacht. Wäre jemand plötzlich auf mich zugekommen, hätte fordernd seinen Zeigefinger auf meine Brust gesetzt, hätte mir herausfordernd in die Augen gestarrt und hätte mich ins Gesicht gefragt: „Worauf wartest du?“ – wäre ich aus Verlegenheit ganz durcheinander gewesen, hätte wirre Satzbrocken gestottert und hätte mich aus Scham in meine Bestandteile aufgelöst. So eine direkte Frage, die eine genaue Stellungnahme gefordert hätte mit daraus sofort folgenden Konsequenzen, hätte mich zertrümmert. Hier wartete ich Stunden lang. Saß mal an der Theke, mal mitten im Raum an einem Einzeltisch und blätterte gelangweilt in einer Zeitschrift oder versuchte mich zu konzentrieren um in einem Buch zu lesen. Betraten Leute das Lokal, die mich interessieren könnten, wußte ich nicht, wie ich mich verhalten sollte. Einfach auf die neuen Gäste zuspringen. „Hallo, hier bin ich“ – zu schreien. Die Eingetretenen setzten sich an einen Tisch bewußt möglichst weit entfernt von mir. Eine unsichtbare Panzerglaswand trennte mich von ihnen. Sie trennte mich von der gesamten Menschheit. Ich bin kein Mensch. Ich schlängelte mich an den Tisch der Fremden. Mich unbemerkt dazusetzen und so erscheinen, als säße ich schon seit dem Urknall auf diesem Stuhl. Fest und selbstbewußt. Die zwei Jungs am Nachbartisch waren in meinem Alter, unterhielten sich miteinander, kannten sich anscheinend schon recht gut, hatten sich viel zu erzählen und hatten kein Interesse und keinen Bedarf an neuen Bekanntschaften. Ich störte sie nicht. Sie beachteten auch nicht die Einrichtung oder das Geschirr oder die anderen Gäste.
Die beiden am Tisch waren groß und kräftig und röhrte sich mit eisenharten Stimmen zu. Während des Gebrülls schwitzen die Hirsche und sind ganz feucht. Die Jungs hatten schwere Motorradkleidung an. Schwarzes Leder. Auf dem Tisch lagen schwarze Integralmotorradhelme.
Die Visiere zugeklappt. Hirsche stinken. Als sie aufstanden um das Lokal zu verlassen, gelang es mir mich aufzuraffen, sie zu fragen, ob es jetzt irgendwo einen anderen, guten, belebten Laden gibt, wo mir das Abenteuer auf dem Tablett serviert wird. Wo man hingehen könnte jetzt. Ich bin hier fremd. Vielleicht nehmen sie mich in ihren Bruderbund auf. Vielleicht werde ich einer der ihren. Falls sie überhaupt auf mich reagieren, entsteht aus den Allerweltsfragen ein nichts sagender Palaver aus den gängigen Gemeinplätzen, wie sie belanglose Touristen mit belanglosen Einheimischen austauschen. „Woher kommst du?“, „Bleibst du lange in Berlin?“, „München ist sooo konservativ!“ Was man halt so sagt. Sie wußten kein anderes Lokal und hätten sie eins gewußt, hätten sie es mir sicher nicht verraten. Einfach weil sie keinen Bock hatten, wegen mir das Maul auf zu machen. Sie sahen mich vor allem überdrüssig an und wollten weiter. Die Bedienung an der Theke hielt mich sicher für einen trostlosen Nachwuchspenner, der sich grämlich durch das Leben ödet. Keine Freunde, keine Arbeit, keine Interessen, keine Ziele, keine Ansichten. Sie wird sich wahrscheinlich gar nichts denken. Werde ich in wenigen Jahren im Obdachlosenasyl landen? Vielleicht werde ich reumütig wieder in mein Heimatkaff irgendwo in Westdeutschland zurückkehren und das Sündenbabel verachten.
Eine Gruppe aus Jungs und Mädchen betraten das Café. Von der Theke beobachtete ich sie. Sie stellten sich ebenfalls an die Theke. Unmittelbar neben dem Hocker, auf dem ich saß, stellte sich ein Junge mit kühler Ausstrahlung. Schwarze, zurückgekämmte Haare mit Koteletts und kalten, blauen Augen, die das Gegenüber mit brutaler Direktheit anblickten, falls er seinen Mitmenschen für würdig erachtete von ihm angeblickt zu werden. Neugierig blickte ich ihm von der Seite ins Gesicht. Er sah gelangweilt in die andere Richtung. Er hatte keine Lust angesprochen zu werden. Ich riß mich zusammen. Ich zwang mich und frug ihn etwas. Was wollte ich von ihm erfahren?
Seine strahlend blauen Augen tauchten mit ihrem Leuchten in meine Augen. Er antwortete nicht. Er drehte dann den Kopf in eine andere Richtung und lächelte dem Mädchen zu, das wohl seine Freundin war. Eine fade Blondine mit Pferdeschwanz und ebenfalls klaren und eisigen, blauen Augen. Eine dünkelhafte Kälte. Sie war vielleicht eine Tochter aus gutem Hause. Sie legte Wert darauf Abstand zu halten gegen die Zumutungen einer verprollten Umwelt. Sie beantwortete seinen Blick mit starren Augen, als frage sie sich und vor allem ihn, was mein Umgang für ihn bezwecke. Sie warf mir einen flüchtigen Blick zu. Er sagte zu mir: „Du hast eine schicke Lederjacke an. Sieht aus wie die Lederjacken der Piloten der Luftwaffe.“ Er betrachtete aufmerksam meine Jacke, die ich ein Jahr zuvor in München gekauft hatte. Ein nicht sehr dickes, glattes Leder. Der breite Kragen ließ die Schultern wachsen. Die Lederjacke meines Gesprächspartners gefiel mir. Ich hielt sie für eine Original-Erdmann-Lederjacke. Meine eigene Jacke gefiel mir, aber ich war an sie gewöhnt. Sie war sehr elegant geschnitten. Ich mochte gröbere Motorradlederjacken. Mein Gesprächspartner betastete das Leder meiner Jacke.
„Entschuldigung, ich möchte nicht aufdringlich sein“ – sagte er fast eingeschüchtert. Er betrachtete mein Kleidungsstück voller Sehnsucht. Im Traum sah er sich selbst als Pilot der Luftwaffe. „Wir könnten in mein Auto steigen und unsere Jacken tauschen, wenn du damit einverstanden bist.“ Er beobachtete aufmerksam meine Augen und wartete auf meine Reaktion. Seine Augen leuchteten erwartungsvoll. Er hielt mir das Leder seiner Jacke entgegen, um mir seine Qualität zu zeigen. Seine kräftigen Hände klopften auf seine gesteppten Schultern. Ein Ritter in seiner Eisenrüstung mit Scharnieren und Nägeln. „Meine Jacke ist sehr männlich. Sie würde dir gut stehen.“ Zwischen meinen Beinen schwoll es wohlig an. Wir verließen das Café. Seine Freundin sah uns mißtrauisch nach. Sie hielt ihren Kopf etwas schräg und ihre Augen waren von Zorn ganz klein. „Ich komme gleich wieder“- vertröstete er sie. Ich werde in die von ihm entleerte Hülle seines Körpers schlüpfen und mit meinem neuen, gestohlenen Körper das Weite suchen. Ich stieg mit ihm in sein Auto, wir nahmen unsere Sachen aus den Jackentaschen, tauschten die Jacken und zogen sie an. Wir saßen dann schweigend nebeneinander im Auto und sahen geradeaus durch die Windschutzscheibe auf die dunkle Straße. Er hatte die Hände auf seinen Schenkeln, begann ein Paar Takte zu klopfen und meinte dann: „Laßt uns wieder reingehen! Die Jacke steht dir – wirklich.“ Er sah lächelnd auf meinen Oberkörper. Ich sah im durch die Straßenlampen erzeugten Halbdunkel das Weiß seiner Zähne leuchten. Wir stiegen aus dem Wagen und kehrten zurück. Als wir wieder eintraten, sah das Mädchen leicht spöttisch auf unsere vertauschte Kleidung. Er klopfte mir kameradschaftlich auf die Schulter. „Tja, vielen Dank für dein Vertrauen. Jeder hat jetzt das an, was ihm steht.“ Seine Jacke, die ich jetzt anhatte, roch nach seinem Schweiß. „Ich möchte mit meinen Freunden noch etwas besprechen. Tut mir leid!“ Er zog aus der Innentasche seines ihm neuen Kleidungsstück einen Kugelschreiber und einen Zettel. Er schrieb etwas auf den Zettel und übergab ihn mir. Ich las seinen Namen und seine Telefonnummer. „Wir könnten uns mal treffen“ – meinte er. Er verabschiedete mich und ich setzte mich woanders hin. Aus der Ferne beobachtete ich, wie er seine Beute seinen Kumpels zeigte.
Sie bewunderten ihn. Ich roch seinen Schweiß. Die Erdmannjacken mit ihren gesteppten Schultern und dem gröberen Leder hatte ich öfter bei Lehrlingen und jungen Arbeitern gesehen. Ein Paar Tage später rief ich ihn an und traf ihn abends im Café Größenwahn. Seine Leute waren mit ihm. Er trug jetzt seinen neuen Erwerb. Ein Offiziersanwärter der Luftwaffe. Ich hatte hier unter seinen Freunden nichts zu suchen. Ein Eindringling. Wir alle stiegen in seinen Wagen und fuhren in der Gegend des Nollendorfplatzes herum. Er unterhielt sich mit seinen Kumpels. Ich hatte nichts zu sagen. Er saß am Steuer und fuhr. Er führte. Er erzählte, daß er als Arzt, der an Operationen beteiligt ist, keinen Alkohol trinken darf. Er hat Verantwortung über Leben und Tod und ist zu Disziplin verpflichtet. Am Abend vor einer Operation geht er schon sehr früh ins Bett. Er muß immer nüchtern und wach sein, um den Tod zu bekämpfen. Seine kalten Augen blickten starr auf die vor ihm liegende Fahrbahn. Klare Ziele. Er weiß, was er will. Er darf nicht einfach in Vergessen und Dämmerung abtauchen. Der kleinste falsche Handgriff bei einer Operation tötet oder verstümmelt die ihm ausgelieferten Patienten. Seine starken Hände halten das Steuerrad. In seinen harten Augen stieg etwas Träumerisches auf. Die Brust des Patienten ist aufgeschnitten. Das Objekt ist ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Das rote Herz pulsiert. Er könnte jederzeit mit seinem bloßen Handgriff das Herz zum Stillstand zwingen.
In Kreuzberg – in der Oranienstraße – betrat ich einen Punkladen. Im Nebel meiner Erinnerungen sprach ich mit einem Punk mit abstehenden, pechschwarzen Haaren. Mecki-Frisur. Ein fröhlicher Igel aus dem Kinderbuch. Ich weiß nicht mehr recht, was ich mit ihm sprach. Die Worte sind vielleicht schon während des Gespräches verdunstet. Seine Haare waren nicht pechschwarz sondern fichtengrün. Auf den von Müllhalden geholten, zerschlissenen Sesseln und Sofas saßen und lagen Betrunkene und Schlafende. Einem Schlafenden hing der Kopf in der Luft dem Boden entgegen. So ein Kopf löst sich im Suff leicht vom Rumpf und geht für immer verloren. Köpfe sitzen locker und man muß sich immer wieder versichern, daß sie noch fest auf dem Hals befestigt sind. Mit meinem Gesprächspartner besprach ich, dass ich kurzfristig in ein besetztes Haus ziehe. Was ich mich erinnere, waren die Wände in diesem Club schmutzig weiß, aber von schwarzen Schattierungen wie von Kohle oder Ruß angefressen. Hier befand sich früher wohl ein Kohlenladen. Wir hielten uns in einer Höhle auf, die tief in die Erde führt und im blinden und tauben Schwarz des Bierschlummers versinkt. Fremde Leute sind unberechenbar. Ich bin niemandem aufgefallen.
Einige Tage später lief ich wahrscheinlich mit dem selben Punk über die Oranienstraße und er erklärte mir seine Bewunderung für Franz Josef Strauß. Er sah in mir jemanden, der nicht dazugehört und sprach sich aus.
In einer kreuzberger Kneipe trat mir aus dem Dunst ein verlebter Mann mit krebsrotem Gesicht entgegen. Das lange, schwarze Haar am Nacken zu einem Zopf gebunden. Er baute sich unmittelbar vor mir auf. Unsere Gesichter stießen fast zusammen. Seine Augen funkelten mich böse an. Er lächelte giftig. Ich spürte seinen Atem und die unruhige Kraft seines Körpers. Seine Nähe erregte meinen Brechreiz. Sein Haß. Plötzlich riß er seinen Pulli hoch und die käsig bleiche Haut über seinem quellenden Bauchfett war von rechts nach links von der Narbe einer Schnittwunde überzogen. Jemand wollte den Mann wie ein Schwein abschlachten. Er blickte mir penetrant in die Augen. Er forderte von mir, dass ich deswegen meine überfällige Rechnung begleiche.
Ich verbrachte die Nacht im Punkladen, soff Unmengen Flaschenbier und ging im Morgengrauen mit meinem neuen Kumpel in sein besetztes Haus zum Übernachten. Eine Bruchbude mit bröckelnden Mauern. Im Treppenhaus fehlte das Geländer. Er stellte mich zwei Jungs vor, In deren Zimmer ich mit schlafen sollte. Sie waren über den Parasiten nicht erfreut. Sie waren stolz auf ihre CD-Sammlung. Der Eine warnte mich gleich statt einer Begrüßung, daß ich meine Pfoten von den CDs halten solle. An einem trüben Nachmittag saßen wir im Kreis auf Matratzen und Polstern und ließen die verschiedensten Drogen, je vielfältiger desto besser, herumgehen. Die Wände waren grau. Der Nachmittagshimmel war grau. Nüchtern ist die Welt nicht zu ertragen. Ein Fläschchen Poppers wurde herumgereicht. Jede Nase schnüffelte daran. Das Blut stieg mir zu Kopf. Das Herz pochte beschleunigt. Was mache ich jetzt mit der Erregung hier? Wir saßen träge auf den Matratzen und schwätzten irgendetwas oder schwiegen. Ein Joint wurde herumgereicht, dann einige Pillen. Mein Begleiter stellte mich den Anwesenden vor. Ihre Blicke frugen: „Wer ist denn das? Was hat der hier zu suchen?“ Niemand sagte etwas gegen mich. Meine graue Segeltuchtasche trug ich in ein Zimmer mit bröckligem, angegrautem Verputz und verließ vertrauensvoll das Haus um abends wiederzukehren. Bei meiner Rückkehr war meine Tasche verschwunden. Sie hatte sich in meiner Abwesenheit in Luft aufgelöst. Ein grämlich gefaltetes Gesicht mit langen, schwarzen Indianerhaaren erklärte, hier wäre nie irgendein Gepäck von mir da gewesen. Niemals! Es baute sich auf. Das Gesicht verhärtete sich. Will hier jemand Streit?
Schweigend stand mein Feind wie eine Festung da. Ein Schlag in meine Magengrube. Ich verzog mich feige.
Ich hatte in den besetzten Häusern nichts zu suchen. Mich langweilte die Vorstellung einer besseren Welt. Das Gute sperrt den Gläubigen in seine Vorurteile ein. Zarte Seelen gleiten schmeichelnde Floskeln flüsternd und mit aus Angst vor Verwundungen zaghaften Gesten aneinander vorbei. Schmerzlosigkeit lässt uns uns selbst entgleiten.
Nachts schlief ich weder in besetzten Häusern noch im Hotel. Mein Geld ging aus. Ich übernachtete nie auf der Straße, unter Brücken oder in Obdachlosenasylen. In Clubs lernte ich Jungs kennen, die mich nett fanden, die ich nett fand und wir gingen zu ihnen nach Hause. Wir umarmten uns und vielleicht küssten wir uns. Dann legte sich jeder auf seine Seite und schlief ein. Ich mag andere Körper mit ihren Schleimausscheidungen nicht. Ich hasste meinen ungeschickten, ausgemergelten Körper. Es ist für mich beruhigend andere Menschen als klar umrissene Gegenstände im Raum zu sehen. Im Zimmer steht der Gegenstand Schrank, der Gegenstand Stuhl, der Gegenstand Mensch. Ich verstand nie, daß sich zwei Körper aneinander reiben und sich gegenseitig in Ekstase steigern. Die Anderen sind weit, weit entfernt.
Ich lag mit einem Fremden im Bett. Er fiel über mich her und wollte mich sich einverleiben. Die Gegenwart des Anderen verwirrte mich. Ich wußte dann nicht mehr, wer von uns beiden ich war. Das Messer schnitt. Ratsch! Ganz schnell von rechts nach links! Er sollte nicht meine Mutter sein. Nachmittags erwachte ich alleine in einem fremden Bett. Durch die Fensterscheiben leuchtete der weiß-graue Himmel. Ich hatte die Schnauze voll von Berlin. Ich sehnte mich nach der Wärme einer Zentralheizung.
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