Gerne denke ich gelegentlich an die Zeit zurück, als ich noch in Schöneberg auf der sogenannten Roten Insel wohnte. Nicht, dass es eine besonders schöne Zeit gewesen wäre, eher im Gegenteil. Ich war arbeits- und perspektivlos, oft verzweifelt, versuchte meine Lage so gut es ging zu verdrängen. Es ging nicht gut.
Doch es gab einen Lichtblick, eine wichtige Konstante in meinem damaligen Leben, die 24-Stunden-Kneipe gleich schräg gegenüber, nur eine Fußminute von meiner Wohnung entfernt.
Die Kneipe wurde von Robert, einem stets gut gelaunten Mann Mitte 30 geführt, von Beruf ursprünglich Gerüstbauer und aus der ehemaligen DDR stammend, wo er mal eine mehrmonatige Gefängnisstrafe verbüßen musste, nur deshalb, weil er etwas zu deutlich die recht ineffiziente Arbeitsweise eines Baukollektivs moniert hatte. Man steckte ihn daraufhin zu einem Mörder in eine Zweierzelle. Dieser hatte die eigene Ehefrau umgebracht, indem er sie in eine landwirtschaftliche Häckselmaschine geworfen hatte.
„Das sollte wohl eine zusätzliche Strafe für mich sein, aber ich kam mit dem Typen gut klar – im Grunde ein netter Kerl.“
Die Kneipe war der unangefochtene Absturzort Nummer 1 im Kiez, der Haltepunkt für die Einsamen, die Verrückten, die Gescheiterten, die Hoffnungslosen, die Arbeitslosen und nicht zuletzt die Alkoholiker verschiedensten Schweregrades, kurzum ein angenehmer und kurzweiliger Ort, den ich gerne besuchte.
Eines Abends konnte ich wie so oft nicht einschlafen, und wie so häufig beschloss ich, die Kneipe aufzusuchen. Man traf dort immer mindestens ein oder zwei Leute, die man kannte.
Dieses Mal war neben acht, neun anderen Gästen Rolf am Start. Rolf war um die 40 Jahre alt. Er hatte lange und immer zerzauste Haare, tiefe Gesichtsfalten und wäre locker als 60-Jähriger durchgegangen. Einige Jahre zuvor war Rolf aus Hessen nach Berlin gezogen, wo er schnell einen originellen Einstand hinlegte. Er brach nachts in einen Supermarkt ein, um Lebensmittel und Alkohol zu klauen, wobei die Unterscheidung zwischen Lebensmitteln und Alkohol im Falle von Rolf an Trennschärfe etwas zu wünschen übrig lässt, war dabei aber so besoffen gewesen, dass er schon während des Einbruchs im Supermarkt einschlief. Am nächsten Morgen konnte die Polizei den noch schlafenden Rolf bequem auflesen und verhaften, so einfach kann Polizeiarbeit auch mal sein. Ich plauderte und trank mit Rolf einige Zeit am Tresen, dann liehen wir uns das Schachspiel aus, um im Nebenraum eine Partie zu spielen.
Wir hatten etwa eine Stunde lang gespielt, da betrat ein finster dreinblickender Mann mittleren Alters in einem schwarzen langen Ledermantel die Kneipe.
„Hallo Hannes!“, sagte Lisa, die Bedienung, freundlich.
Hannes erwiderte den Gruß nicht. Stattdessen zog er aus seiner rechten Manteltasche einen Revolver, fuchtelte damit herum und rief: „Ich bin scheiße drauf, ich werde Euch jetzt alle erschießen!“
Daraufhin lag eindeutig eine gewisse Anspannung in der Luft, aber ich blieb ganz gelassen. Ich glaube, dass mein Puls nicht eine Spur in die Höhe ging. Nicht, dass ich besonders mutig gewesen wäre, aber es fehlte mir einfach ein wenig an Wahnsinn und Aggressivität in der Stimme und Körpersprache dieses Hannes, um ihm Glauben zu schenken, ich vertraute diesbezüglich meiner Menschenkenntnis. Außerdem sieht man ab zwei Promille vieles gelassen, manchmal vielleicht zu vieles.
„Mach keinen Scheiß, Hannes. Beruhige Dich erstmal!“, sagte Lisa.
„Ich will mich nicht beruhigen, ich erschieß Euch!“
Nun griff Rolf in die Innentasche seiner Jacke: „Verdammt, meine Knarre ist weg, der Typ hat meine Knarre!“
„Rede keinen Mist, Rolf! Das kann nicht Deine Knarre sein, ich habe ihn doch damit reinkommen sehen“, sagte ich.
Mein eigentlich zwingendes Argument beeindruckte Rolf nicht im Geringsten. Er sprang auf und lief in den Tresenbereich bzw. auf Hannes zu: „Gib mir sofort meine Knarre!“, lallte Rolf.
„Hau ab, das ist meine Puste!“, erwiderte Hannes, aber Rolf ließ nicht locker: „Gib mir sofort meine Knarre her!“
„Du spinnst ja!“, sagte Hannes und schubste Rolf mit seiner linken Hand ein Stück von sich weg. Nun stürzte Rolf auf Hannes, warf ihn zu Boden und beide rauften ausgiebig im Tresenbereich. Lisa nutzte die Situation, indem sie Hannes den Revolver aus der Hand riss, den dieser die ganze Zeit in seiner rechten Hand behalten hatte. Die Balgerei verlagerte sich allmählich in den Nebenraum und dann in Richtung meines Tisches, was mich beunruhigte, denn ich war auf der Gewinnerstraße gewesen, hatte mir zwei Bauern Vorsprung und eine bessere Stellung schließlich hart erarbeitet. Und jetzt bestand die Gefahr, dass die beiden gegen meinen Tisch rumpelten und alle Figuren wild durch den Raum flögen. Aber dazu kam es glücklicherweise nicht. Lisa trennte nun mit aller Kraft die beiden Streithähne, die sich bereits zehn Minuten lang auf dem Boden gewälzt und bei denen sich nun auch erste Ermüdungserscheinungen eingestellt hatten.
Ein Unentschieden, würde ich sagen, Rolf hatte sich dafür, dass er stockbetrunken war, während Hannes einen fast nüchternen Eindruck gemacht hatte, tapfer geschlagen.
Aber noch war die Sache nicht ausgestanden. „Gib mir meine Knarre zurück!“, forderte nun Hannes von Lisa, die den Revolver auf einen direkt hinter ihr stehenden Hocker gelegt hatte.
„Okay, Du kannst ihn haben“, sagte Lisa, „wenn Du mir versprichst, dass Du dann Ruhe gibst und gehst!“
„Versprochen“, sagte Hannes. „Eh nur lauter Verrückte hier, die will man ja nicht mal erschießen.“
Lisa gab Hannes den Revolver. Hannes ging friedlich und wortlos Richtung Ausgang.
„Und komm bald mal wieder auf ein Bier, wenn Du besser drauf bist!“, gab Lisa Hannes mit auf den Weg. Man war gegenüber den Gästen offenbar nicht nachtragend.
Rolf und ich spielten unsere Partie weiter, aber Rolf zeterte dabei fast ununterbrochen: „Den Typen schnapp ich mir noch“, „Den kriege ich heute noch“, „Die Sache ist noch nicht erledigt“ usw. usw.
„Schach!“, sagte ich.
„Verdammte Scheiße!“, sagte Rolf. „Ich gebe auf.“
Wir brachten das Schachspiel zurück und tranken am Tresen weiter.
Zufällig glitt mein Blick nach weiteren zwei oder drei Stunden unter die Barhocker. Keinen Meter von Rolf entfernt lag ein Revolver unter einem der Barhocker.
„Kuck mal nach unten unter die Barhocker!“, sagte ich zu Rolf.
„Nein, meine Knarre, das ist ja wirklich meine Knarre!“, sagte er voller Freude. „Die muss ich vorhin am Tresen verloren haben. Wie man sich in Menschen nur täuschen kann! Ich muss mich bei dem Typen entschuldigen, ich muss jetzt gehen und mich entschuldigen!“
„Rolf! Das ist Stunden her, wie willst Du den jetzt noch finden?“
„Hast ja recht, Markus. Aber wie man sich doch täuschen kann! Unglaublich!“
„Na, dann ist ja alles wieder in bester Ordnung!“, sagte Lisa strahlend.
Ja, es war alles wieder in bester Ordnung: Hannes und Rolf hatten beide ihren Revolver wieder, Hannes hatte von einer Massenerschießung abgesehen, ich hatte meine Schachpartie gewonnen, und das Bier floss weiter in Strömen. Im Morgengrauen wankte ich nach Hause.
Vielleicht sollte ich nach all den Jahren mal wieder in diese Kneipe gehen, es gibt sie immer noch. Und bestimmt hängen auch jetzt noch die gleichen Typen wie damals ab, bis auf ein paar vielleicht, die sich totgesoffen haben könnten.
Ja, ich werde mal wieder reingehen – in Erinnerung an diese surreale Nacht.
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© 2022 Markus Katzenmeier
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