Von Carmen Schmidt
„Die Bahncard? Dass ich nicht lache“. Der halbe Preis ist doch nur ein Märchen, das uns die Bahn auftischt, um zu verschleiern, dass alle anderen, die keine Bahncard besitzen, den doppelten Fahrpreis bezahlen. Aber wenn man das durchschaut, kann man sich wehren. Da gibt es immer Tricks, wenn man ein kreativer Kopf ist.“
Bodo in seinem Element. Sein bevorzugtes Gesprächsthema war stets, wie er, der clevere Bodo, die miesen Tricks der Geschäftemacher durchschaute und durch geschickte Schachzüge die anderen schachmatt setzte.
„Wenn ich von Berlin nach Bremen fahre, kaufe ich immer nur eine Karte bis Hannover. Kurz vor Hannover schlafe ich schnellstens ein. Wenn dann nach der Station ein Schaffner die Fahrkarten kontrolliert, wache ich auf und kriege einen fürchterlichen Schrecken. Ich jammere dem Schaffner die Hucke voll, dass ich in Hannover rausmusste und nun meinen Termin versäume. Der tröstet mich, sucht mir Verbindungen zurück raus und lässt mich umsonst weiterfahren. So spare ich Geld und wische der Bahn einen aus. Mit der Zeit läppert sich ein schöner Betrag zusammen.“
Ich überlegte. „Was ist, wenn der Schaffner die Masche schon kennt?“, wollte ich wissen.
„Ich fahre immer zu verschiedenen Zeiten und gucke mir vorher den Schaffner an. Funktioniert bestens.“ Bodo war nicht zu erschüttern. Na gut, dachte ich, das könnte klappen. Am Samstag könnte ich mal einen Versuch wagen, wenn ich zum Besuch meiner Freundin nach Bremen fahren würde.
In der Nacht vorher tat ich vor Aufregung kein Auge zu. Wieviel Geld könnte ich mit dieser Masche sparen. Vor mir sah ich eine stattliche Summe, die mir einiges ermöglichen würde.
Am Samstagmorgen kaufte ich eine Fahrkarte nach Hannover und wartete angespannt auf den Zug. Gleich nach der Abfahrt kam der Schaffner und kontrollierte die Fahrkarten.
Er sah mich nachdenklich an. Mir brach der Schweiß aus. Konnte der Mann Gedanken lesen?
„Sie fahren also bis Hannover?“, fragte er. „Genau“, antwortete ich und bemühte mich um einen gelassenen Gesichtsausdruck.
„Das ist ja prima. Ich habe hier einen kleinen Jungen, der mir von der Mutter in Obhut gegeben wurde. In Hannover wird er vom Vater abgeholt. Die Kinder reisen ja heutzutage schon viel früher alleine. Sie sehen so vertrauenswürdig aus, mit Ihnen kann er fahren.“
Er verschwand und kam mit einem circa zehnjährigen Jungen zurück, der mich erwartungsvoll anstrahlte.
„Hier Junge, der Mann steigt auch in Hannover aus. Setz dich zu ihm, dann könnt ihr ein Stück gemeinsam reisen. Gute Fahrt noch!“ Er verschwand und ließ mich ratlos zurück. Was nun? Mein schöner Plan löste sich in Rauch auf. Was sollte ich in Hannover?
Im Stillen verfluchte ich Bodo mit seinen cleveren Tricks.
Nichtsahnend erzählte mir der Junge von seinem Vater, der mit ihm einiges unternehmen würde. Plötzlich sah er mich aufmerksam an:
„Ich bin Alex. Bist du traurig?“ „Ein bisschen.“
„Na, dann kann ich dir ja ein paar Witze erzählen, damit du wieder lachst. Bei meiner Mama hilft das auch immer.“
„Hör zu, mein Junge. Ich brauche keine Witze, ich bin nur müde. Am besten steigst du in Hannover aus, ich fahre weiter und schlafe ein bisschen im Zug, okay?“ „Aber du willst doch auch nach Hannover.“ Ich wurde ungeduldig. „Ich habe es mir eben anders überlegt“, sagte ich ein bisschen barsch. Die Augen des Kindes füllten sich mit Tränen. „Aber was ist, wenn mein Papa nicht da ist? Dann stehe ich alleine auf dem Bahnsteig“. Er begann zu schluchzen. „Ich will zum Schaffner.“
Ich gab mich geschlagen. „Kein Schaffner. Wir steigen zusammen aus. Am Bahnsteig in Hannover war weit und breit kein wartender Vater zu sehen. „Und? Wo ist nun dein Papa?“, fragte ich das Kind. „Weiß nicht. Vielleicht in Mahndorf?“
„In Mahndorf? Wie kommst du denn darauf?“ „Da wohnt mein Papa mit seiner neuen Freundin. Vielleicht wartet er da am Bahnhof. Bringst du mich dahin?“ „Bestimmt nicht. Dann hätten wir ja im Zug bleiben können. Ich bringe dich jetzt zur Bahnhofsmission, die werden dir weiter helfen.“
Der Kleine begann zu weinen. Die anderen Wartenden auf dem Bahnsteig beobachten uns interessiert. „Immer gibst du mich irgendwo ab, Papa.“ „Ich bin nicht dein Papa. Der sollte dich hier abholen, nun haben wir den Salat.“ Langsam reichte es mir. Die anderen Reisenden rückten näher und lauschten gespannt unserem Gespräch. „Doch Papa, dabei hat Mama extra gesagt, ich soll auf dich aufpassen, damit du nicht wieder unser Geld vertrinkst.“ Ich erntete empörte bis verächtliche Blicke.
Die Leute rückten näher und bildeten einen Halbkreis um uns. Ich fühlte mich wie in einem Alptraum, aus dem ich nicht wieder aufwachen würde.
Plötzlich fiel mir ein Ereignis aus meiner Kindheit ein. Ich drückte Alex an mich, steuerte auf die Lücke im Halbkreis zu und blickte wie zufällig auf seinen Kopf. „Junge, du hast ja schon wieder Kopfläuse“, seufzte ich laut. Augenblicklich rückte die Meute von uns ab. Unwillkürlich kratzten sich viele am Kopf.
Alex weinte weiter: „Ich habe Hunger.“ Wir suchten eine Imbissbude, wo er mit Heißhunger eine Riesenportion Pommes weiß-rot mit Wurst verspeiste. Dazu trank er zwei Dosen Cola.
Ich gab mich für den Augenblick geschlagen und überlegte. Immerhin gehörte Mahndorf zum äußeren Stadtgebiet von Bremen. Ich könnte von dort mit der Straßenbahn in die Innenstadt fahren und hätte immer noch ein bisschen Geld gespart.
Wir nahmen den nächsten Regionalzug nach Bremen Hauptbahnhof, der auch in Bremen-Mahndorf hielt. Als wir dem Schaffner die Geschichte erklärten, grinste er uns breit an.
„So so, versehentlich in Hannover ausgestiegen. Und eigentlich wollen Sie nach Bremen, stimmt´s? Solche haben wir oft. Die steigen in Berlin ein, viele tun so, als wären sie kurz vor Hannover eingeschlafen.
Manche verschwinden auch kurz vor dieser Station auf die Toilette und kommen erst in Bremen wieder raus. Aber der Trick mit dem Kind ist neu, alle Achtung. Na, denn wollen wir mal nicht so sein und ein Auge zudrücken. Gute Reise noch!“
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