Von Regine Wendt
Vorsichtig leben.
Auf der Hut sein. Du bist alt, du bist grau, bist du weiblich, bist du mütterlich, unkörperlich. Freundlich nett. Schau in den Spiegel, dein Gesicht ein Faltenteppich, dazu die Zahl. Die Zahl wird gewalttätig. Will nicht genannt sein. Ein Stempel. Alt, wie ein Schmutzlappen, zieh dich zurück. Der Körper, noch in Schuss, passabel, läuft, will hinaus ins Grüne, Lebhafte, in Straßen mit Gewühl. Tanzt geheim. Was solls! Trägt bunt. Rot, gelb, grün, eng, sieht noch aus. Morgens steift er, bockt, will gezwungen werden. Manchmal ist der Körper alt, weint, plärrt vor sich hin. Will gehegt und gepflegt werden. Eine Trauerweide, bläht er sich wieder auf zur grünen Birke, oder zur Platane in Tarnkleidung. Ungewollter Körpersport. Kraftakt.
Im Spiegel, das alte Gesicht lächelt zurück. Verwegen schaut das Kind heraus, jugendlich alt, wie das denn. Hinter der Haut, das andere Ich. Baut es aus Moos eine Glückswelt für die Puppen. Schaut aus dem Fenster auf das Kornfeld, ist dabei am Meer. Hoch die Wogen bei Sturm. Liest auf dem hohen Dach ein Buch, selbst der Schornsteinfeger hätte hier Angst. Denkt nicht darüber nach zu gefallen, ist frech, ist unangepasst wild. Nicht schön, nicht hässlich das Kind. Nur voll Freude und Kraft.
Jugendlich frisch geht es hinaus in die Welt. Eroberung, Erniedrigung, alles dabei. Oft gut dabei weggekommen, Abenteuerlust sucht Erfahrung. Will schmecken, riechen, Steine schmeißen und küssen. Will leben mit allem was dazu gehört. Nimmt und gibt, Vorsicht ist nicht. Sex, Schmerz und Liebe. Alles. Bis die Kost zu viel wird, dann gibt es Brot. Gut geschnitten und verpackt, Zufriedenheit mit Glücksmomenten breitet sich aus. Vermehrungsfähig, dann wird das Füllhorn ausgeschüttet. Unter der Haut das Salz. Das Salz in der Suppe, gewürzt. Scharf, gelegentlich darf es ein bisschen mehr sein.
Ohne Spiegel häutet sich die Haut, lässt es sich besser leben. Macht vergesslich. Verborgenes lässt verwegen wagen. Fackelbrennen nicht ausgeschlossen, wenn die Schwalben niedrig fliegen, sagt man, gibt es Regen. Doch ab und zu fliegen sie hoch. Vorsichtig leben ist angesagt. Streif den Kittel über. Sei wie die drei Affen, nichts sagen, nicht hören, nichts sehen lassen. Das alte Gesicht mahnt, ist auf Rufweite entfernt. Hoffentlich, denn ab und zu tanzt die Seele, nimmt sich, was sie braucht, stillt sich. Heute ist heute, jetzt ist jetzt. Das Leben will Wünsche, will Erfüllung. Sucht sich Wege. Ungezügelte Pferde trampeln nieder, was den Weg blockiert, dämonisch die Zähne bleckend. Ohne Rücksicht auf Verlust. Du musst, du darfst nicht so sein, ein ferner Klang.
Auf der Bühne, die Zahl, turnt sie vor. Ein Kracher. Unangenehm deutlich angezählt. Bereitet geheime Angst. Führt in dunkle Tiefen. Die Vernunft rechnet mit. Die Logik macht Mathematik, X ist vorprogrammiert, schon fast Ergebnis sicher. Im Spiegel das alte Gesicht. Macht es die Augen zu. Nein, nichts zu sehen. Und doch: Die Energie speist sich. Es gibt ein Andersland, lässt fliegen und sich frei fühlen, kurz oder lange, singt und freudig hüpft ein Schmetterling im Sommerflieder. Sprengt Dynamit, oder Kleineres die Enge, weist kräftig zurück, was bevormundet. Vorschreibt, was zu sein hat, Was passt. Beige und Grau und möglichst unsichtbar.
Energie ist ein Pflug, neuer Samen braucht einen guten Boden. Die Zeit ist dabei bedeutungslos, gefühlter Windhauch. Die Sonne lugt manchmal nur mit einem Strahl durch den grauen Himmel. Legt kurz Blau frei.
Es lohnt sich, das Leben. Kirschen, angefaulte Äpfel, Schneeglöckchen, Malven, Moos, Farn und brennende Nesseln.
Irgendwo Abendrot, die Sonne geht unter. Die Vögel haben längst ihren Schlafbaum gefunden, der Mauersegler hängt im Mauervorsprung. Dunkel wird’s. Nacht.
Silbertau auf der Wiese, in der Muschel Meeresrauschen. Vorsichtig tritt eine Hirschkuh aus dem tiefen Schatten.
Noch wird es wieder morgen.
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© 2022 Regine Wendt
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