Was macht er?

Von Lena Kelm

Beim Betreten des fast leeren Cafés fällt mir ein kleinwüchsiger Mann auf. Nicht wegen seiner Größe, nein, seine Beine sind nackt. Erotisch wirken sie nicht auf mich. Entsetzt bin ich, draußen fegt ein eisiger Wind, gefühlte acht Grad minus statt der angesagten vier. Es nieselt, Nässe und Wind verstärken das Gefühl von Kälte. Die Passanten tragen dicke Schals, Kapuzen, Winterjacken. Es ist Ende März, aber das Frühlingsgefühl ist von den Gesichtern der Menschen nicht abzulesen. Die schneeweißen Beine des Mannes stecken barfuß in Halbschuhen mit dicken Sohlen. Seine weinroten Shorts reichen bis zu den knochigen Knien. Er trägt ein ausgeblichenes fliederfarbenes Sakko, ein abgetragener dunkelgrüner Schal fällt ihm über Brust und Rücken, seine Schirmmütze ist von einem satteren Grün. Weshalb er anstatt eines kühlen Kopfes kalte Beine bevorzugt, bleibt wohl sein Geheimnis. In arroganter Pose stolziert er durch das Café und redet ununterbrochen, belustigt das Publikum. Ein Stammgast! „Hallochen, meine Süße“, sagt er zur Verkäuferin. „Du weißt schon, wie immer, aber bitte mit Sahne!“, imitiert er Udo Jürgens. „Kannst ruhig etwas mehr drufjeben“, scherzt er.
Mit meinem Kaffee ziehe ich mich an den Ecktisch zurück. Von hier aus beobachte ich das Geschehen. Der Künstler, so nenne ich ihn, tänzelt vor dem hohen Tresen und reckt den Hals empor zur Bedienung. In dem Moment nähert sich ihm ein Mann von kräftiger Statur, drei Köpfe größer, mit mürrischem Gesichtsausdruck. Er saß am Tisch neben dem Eingang, anscheinend ein Bekannter, ungeduldig wartet er auf Kaffee und Kuchen. Er will seinen Kaffee nun selbst abholen, spöttisch sagt er zur Verkäuferin: „Haben Sie den gesehen? Der läuft halbnackt herum bei den Temperaturen, verkehrte Welt, oder?“ Die Verkäuferin spaßt: „Im Sommer zieht er dann seinen Ski-Anzug an.“ Der Künstler lacht nun auch. Der große Mann bringt seinen Kaffee zum Tisch, kehrt zur Theke zurück, um den Kuchen zu holen. „Hier ist was los!“ meint er. „Hier doch nicht, in den Wilmersdorfer Arkaden, da ist richtig was los!“, erwidert der Künstler. „Woher weißt du denn das?“, fragt der Große interessiert. „Na, da war ich doch gestern. Weißte, wen ich da getroffen habe?“ – „Wen denn?“ – „Na, den Hansi!“ – „Und was macht der?“ – „Na, wir sitzen bei den Massagesesseln für zwei Euro.“ – „Und was macht er?“ – „Hansi?“ – „Na, was macht der?“ – „Scheiden lässt er sich von seiner Alten.“ – „Ja, aber, was macht er?“ – „Du, die Olle, die Ex, die will ihn richtig abzocken. Die geht bis zum Obersten Gericht, an das Kammergericht, ja, ja, und nur, um zwanzig Euro mehr zu kriegen.“ – „Aber was macht er?“ – fragt der große Mann mit Nachdruck. „Na was wohl, am Ende ist er.“ – „Und was MACHT er?“, fragt der Große gereizt. „Der, na, der macht gar nichts, kaputt ist der.“ – „Ich frag dich, was macht er?“ Es klingt bedrohlich. „Der, der kann gar nichts machen, fertig ist der mit den Nerven.“, sagt seelenruhig der Künstler. „Hörst du mir überhaupt zu? Ich frage dich, was MACHT er?“ – „Na was schon? Ein trauriges Jesicht! Dreckig geht‘s ihm, weil seine Frau weg und er alleine ist.“
Währenddessen gehen die beiden zwischen Theke und Tisch hin und her, holen Kuchen, Milch, Zucker, Kuchengabeln, Teelöffel. Das Café hat sich allmählich gefüllt, die Gäste lauschen. Gerade kommentiert der Künstler den Eintritt des türkischen Gemüsehändlers vom Nachbarladen, als er an meinem Tisch vorbei schlendert. „Der bringt jeden Tag was rein. Gestern sechs Mandarinen, da hat er ein Küsschen bekommen. Heute ist es eine komische Frucht, na, da kriegt er kein‘ Bussi.“ Ich lächele höflich zurück. Doch er ist wieder auf Tour durch das Café und kaut die „komische“ orange Frucht, Khaki, die ihm bereitwillig die Verkäuferin weiterschenkt. Ich stelle meine Tasse ab und bewege mich zum Ausgang, da höre ich, wie sein Bekannter mürrisch sagt: „Jetzt reicht‘s mir aber, ich gehe!“ Er rührt sich aber nicht vom Platz. Der Künstler überspielt die Situation mit einem begütigen Lächeln.

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© 2022 Lena Kelm
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